Kriegsenkel
nimmt sich Zeit, um mir eine zentrale Erfahrung mit Mobbing zu beschreiben. Offenbar nahm er als Schüler nicht ausreichend wahr, dass er sich mit seiner Überflieger-Position, seiner Kompromisslosigkeit in Sachen Gerechtigkeit und seinem Drang, heikle Sachverhalte anzusprechen, Feinde machte. Auch den Neidfaktor blendete er aus, aber das ist nicht ganz so überraschend, wenn man weiß, dass er auch den Neid seiner Geschwister ignorierte. Aus seinen Schilderungen schließe ich, dass die Schulleitung ihn loswerden wollte. Da kam ihr ein Gerücht, wonach Jürgen ein Drogendealer sein sollte, gerade recht. Es lag ihr nicht daran, den Wahrheitsgehalt zu ermitteln. Der Schulsprecher wurde zu Unrecht beschuldigt, es hieß, man glaube ihm nicht, aber da man ihm nichts nachweisen könne, sei es das Beste, er wechsle das Gymnasium. »Im Nachhinein«, urteilt er, »war diese neue Schule das Beste, was mir passieren konnte.« Hier entdeckte er die Welt die Literatur, [152] des Theaters, zwei Leidenschaften, die ihn nicht mehr verließen.
Das Merkwürdige ist, dass Jürgen Petersen auch im Rückblick darauf besteht, die Lehrer an seinem ersten Gymnasium hätten ihm – gerade weil er so aufrichtig war – ausnahmslos mit Achtung und Respekt begegnen müssen. Bis heute weigert er sich, zu akzeptieren, dass eigenwillige Charaktere von der Mehrheit der Bevölkerung eben nicht geschätzt werden und deshalb Nachteile erfahren. Er erwartet Beifall von Leuten, die sich durch sein Verhalten irritiert und vielleicht sogar vorgeführt sehen. Bei jemandem, der dem jugendlichen Alter schon lange entwachsen ist und der seine Mitmenschen sehr genau beobachtet – was in meinen Augen auch die besondere Qualität seiner Arbeit ausmacht –, finde ich eine solche Sichtweise überraschend. Was hindert ihn bis heute daran, zu unterscheiden, wer ihn unterstützt und wer ihm nichts Gutes gönnt?
Vor einigen Jahren, als seine Erwerbsminderung durch die Diagnose Parkinson amtlich geworden war, stellte er einen Antrag auf Hartz IV. Dazu schildert er mir eine lange Episode der fortgesetzten Demütigung von Seiten einer Sachbearbeiterin. Offenbar unterstellte sie ihm, er wolle sich die finanzielle Unterstützung erschleichen. Er nahm es hin, er wehrte sich nicht. Warum nicht? Weil er mit Autoritäten große Schwierigkeiten habe, erläutert er mir. Seine Mutter habe ihm vermittelt: Man muss Autoritäten unbedingt gehorchen. Er kenne von ihrer Seite auch keine Solidarität, wenn sie von seinen Konflikten erfuhr. Mutter habe immer den anderen mehr geglaubt, den Lehrern zum Beispiel. »Ich hätte bezüglich Hartz IV immerfort Widerspruch einlegen müssen, bei jeder Ablehnung, bei jeder Schikane. Aber ich dachte: Sie werden schon wissen, was sie tun«, erklärt er mir. »Außerdem will ich respektiert werden in meinem Anspruch auf das, was mir zusteht, ohne Widerspruch einlegen zu müssen. Ich bin unglaublich stur. Ich verabscheue es, wenn man mich zwingt, etwas zu tun, was ich nicht will.«
[153] Als Kind und Jugendlicher hatte Jürgen Petersen die Ehekriege seiner Eltern ertragen müssen. Vielleicht hat er sich ja damals geschworen: Das mache ich anders. Nie wieder Krieg. Oder wenn schon Krieg, dann zu Bedingungen, die ich akzeptieren kann. Er sagt: »Ich fand es immer ganz widerlich, wenn man mich gezwungen hat, laut zu werden.« Es geht ihm damit wie jedem Menschen, dem etwas abverlangt wird, was er nicht gut kann und was er – weil er damit seine Überzeugungen verraten würde – auch nicht erlernen möchte.
Nun ist aber jeder Mensch, ob er will oder nicht, gelegentlich Angriffen ausgesetzt, die ihm nur die Wahl lassen zwischen Lautwerden oder Zurückweichen. Der Amerikaner William Shirer, der sich während der NS-Zeit als Zeitungskorrespondent in Berlin aufhielt, schildert in seinem Buch »Das Jahrzehnt des Unheils«, wie er sich von brüllenden Nazis einschüchtern ließ – solange, bis er sich entschloss zurückzubrüllen.
Hohe moralische Ansprüche
Petersens Vater, der Wehrmachtssoldat gewesen war, wird von der wirksamen Methode gewusst haben. Aber von ihm hätte Jürgen entsprechende Unterweisungen nicht angenommen, denn der Vater hatte sich im Rosenkrieg als Vorbild disqualifiziert. Dem Sohn waren auch andere, durchaus nützliche Lebensregeln suspekt, zum Beispiel: Bei großer Gefahr macht man die Schotten dicht. Denn er litt nicht nur, wenn man ihn zwang, laut zu werden, sondern genauso, wenn die Situation es erforderte, sich in
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