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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Sicherheit zu bringen. Ohne Anpassung war das nicht zu erreichen, und damit verriet er seine Prinzipen. Folgte er seinen Prinzipien, war er wehrlos und schutzlos. Gehorchte er der Not, genügte er seinen moralischen Ansprüchen nicht. Was für eine Falle!
    Der Vater erzählte Jürgen viel über seine Wehrmachtszeit. [154] Dafür hatte es nur der richtigen Frage zur richtigen Zeit bedurft. Jürgen, damals Anfang zwanzig, wollte von ihm wissen: »Wo warst du eigentlich mit 21 Jahren?« Antwort: »In Griechenland. Da haben die Briten auf uns geschossen.« Als der Vater merkte, dass sein Sohn ihm keine rhetorische Frage gestellt hatte, sondern wirklich interessiert war, ergab sich etwas bisher nie da Gewesenes zwischen ihnen: ein langes, intensives Gespräch. Es wurde fortgesetzt, Vater und Sohn kamen sich näher, und mit der Zeit entwickelte sich eine vertrauensvolle Beziehung.
    Der Vater stellte Fragen zu Jürgens Arbeit, nicht im Sinne von: »Wie willst du davon leben?«, sondern: »Zeig mir doch mal, was du so schreibst.« So kam es, dass sein Sohn ihm gelegentlich Texte zu lesen gab. Der Vater erschien auch zur Premiere seines ersten Theaterstücks. Die Mutter hingegen ist an der Arbeit ihres Sohnes gänzlich uninteressiert. Es käme ihr nicht in den Sinn, die Tageszeitung zu kaufen, nur weil im Kulturteil ein Buch von Jürgen Petersen besprochen wird. Ein einziges Mal hatte sie einen Text von ihm gelesen. Der Sohn, damals noch Schüler, hatte sich von seiner Einsamkeit in seiner Familie inspirieren lassen. Der Text trug den Titel »Geschwister«. Seine Mutter las ihn und meinte nur: »Ich glaube, du brauchst einen Arzt.«
    Jürgen Petersen kann seine Mutter gut erfassen. Ihre Persönlichkeit diente ihm als Vorlage für die dominante »grüne Dame« in seinem Hörspiel. Er beschrieb sie inklusive ihrer Leidenschaft für Tabletten, weshalb sie sich auf Station gern in der Nähe des Medikamentenschranks aufhielt, in der Hoffnung, sie werde ihn eines Tages unverschlossen vorfinden. Er weiß viel über seine Mutter, er kennt ihre Traumata, ihre Schwächen, ihre Bedenkenlosigkeit. Aber all das zu wissen, hilft ihm nicht weiter, wenn es darum geht, sich wirksam von ihr abzugrenzen.
    [155] Die Konkurrenz der Kranken
    Dass Jürgen sich heute so gut mit seinem Vater versteht, empfindet seine Mutter offenbar als Verrat. Ihr Misstrauen ist noch gewachsen. Und ein Zweites hat sich im Verhältnis zu ihrem Sohn verändert. Entgegen der früheren Gewohnheit, in ihm, wenn er krank war, geradezu einen Komplizen zu sehen, ist seit der Diagnose Parkinson das Thema Krankheit in seiner Gegenwart tabu. Weder seine Mutter noch sonst jemand in der Familie spricht ihn darauf an. Kein mitfühlendes Nachfragen, kein Beistand, kein Trost. Jürgen Petersen, der deshalb viele Gespräche mit seinem Therapeuten führte, erklärt mir das so: »In meiner Familie herrscht die Konkurrenz der Kranken. Aber mit Parkinson kann keiner mehr mithalten. Da habe ich sozusagen den obersten Trumpf gezogen. Keiner kann mich mehr mit seinen Krankheiten ausstechen.«
    Es überrascht mich, dass er, als er vor zwei Jahren die Diagnose Parkinson erfahren hatte, nicht in Niedergeschlagenheit versunken war. »Das war ich vorher, als die Krankheit noch nicht diagnostisiert war«, erklärt er. »Ich dachte, ich sei depressiv, und auch die Ärzte meinten lange Zeit, es handele sich bei mir um etwas Psychosomatisches.« Aber schließlich lagen die Fakten auf dem Tisch, und Jürgen Petersen blieb nichts anderes übrig, als sie zu akzeptieren. Er beschloss, sich auf das Positive in seinem Leben zu konzentrieren, die Arbeit und die Liebe. Was er sich nie hätte träumen lassen – er war als Schriftsteller zunehmend gefragt. Der andere große Erfolg bestand darin, dass er nun schon 20 Jahre mit seiner Lebensgefährtin zusammen war. So viel Glück musste gefeiert werden! Er wünschte sich ein rauschendes Fest, ein Hochzeitsfest, das keiner seiner Gäste je vergessen sollte. »Mein großes Defizit war ja«, erläutert er mir, »ich konnte Leid immer teilen, aber Freude nicht. Ich wollte, dass alle kommen und mit mir feiern.«
    Das Fest wurde sein Waterloo, die größte Niederlage seines [156] Lebens. Seine Mutter erschien erst gar nicht. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass es vielleicht wichtig sein könnte, dem Sohn, der endlich geheiratet hatte, ihren Segen zu geben. Auch die Schwester sagte ab. Sein Bruder dagegen kam, allerdings bereit, schlechte Laune zu verbreiten, was ihm

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