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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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nicht erfassen. Ich wusste nur, sie waren stark und unangenehm. Hinzu kam ein ebenso erdrückendes Gefühl bei mir zu Hause. Es hat mich noch begleitet, als ich schon längst ausgezogen war: ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle meinen Eltern gegenüber. Oft hatte ich die Empfindung, ich sei ›undankbar‹ und keine ›gute Tochter‹.
    Geboren wurde ich 1969 in Koblenz als Jüngstes von drei Kindern. Ende der 70er Jahre sind wir nach Bochum umgezogen, [162] wo ich meine Jugendzeit verbrachte. Ich bin die Tochter eines Flüchtlingskindes. Meine Großeltern mütterlicherseits lebten als einfache ›deutschstämmige‹ Bauern in Polen und hatten mit den Nazis nichts am Hut. Als mein Opa ein Angebot der Nazis, Bezirksleiter zu werden, ablehnte, wurde er kurze Zeit später an die Kriegsfront nach Russland abkommandiert. Nach einer kurzen Zeit der Kriegsgefangenschaft schlug er sich zu seiner Familie in Zentralpolen durch, die er dann über die schon abgeriegelte Grenze nach Westdeutschland führte. Meine Mutter war damals zehn Jahre alt. Die Familie siedelte sich nach der Flucht in Niedersachsen an.
    Über meine Familie väterlicherseits weiß ich heute, dass meine Großeltern überzeugte Nationalsozialisten waren. Sie glaubten an die Ziele der Nazis und befürworteten die dem System zugrunde liegenden Ideen. Beide waren in der NSDAP. Mein Opa wurde nach einer Denunzierung unehrenhaft aus der Partei ausgeschlossen, kam ins Gefängnis und wurde nach dem Krieg noch einmal sieben Jahre in dem ehemaligen KZ Buchenwald und im DDR-Gefängnis Waldheim inhaftiert, weil er nun von Nachbarn als Nazi denunziert worden war. Als er 1952 entlassen wurde, kehrte er zu meiner Oma und meinem Vater zurück, die mittlerweile in Bochum lebten. Über die ganze Geschichte wurde in der Familie nicht geredet. Mein Vater nahm dieses Schweigen schließlich mit in den Tod. 1937 geboren, verstarb er Ende der 90er Jahre an Krebs.
    Die Geschichte meiner Großeltern und Eltern führe ich an, weil deren Kriegs- und Nachkriegserfahrungen meine persönliche Entwicklung direkt beeinflussten. Meine Kindheit und Jugend wurde grundlegend durch unverarbeitete Kriegserlebnisse geprägt. Damit stehe ich nicht allein da. Meiner Meinung nach gibt es zwischen meiner Generation und der Elterngeneration einen gravierenden Generationskonflikt. Dieser Konflikt, der sich abgeschirmt in den Familien abspielt, wird in der Öffentlichkeit nicht thematisiert, beziehungsweise ist er noch [163] nicht als Konflikt erkannt worden. Mit diesem Bericht versuche ich, aus einzelnen mosaikartigen Erfahrungen meine Sichtweise auf diesen unterschwelligen Generationskonflikt wiederzugeben.
    In meiner Kindheit, die von Krankheiten überschattet war, fühlte ich mich überwiegend einsam, unsicher und nicht am rechten Platz. Es gab kein Gefühl von Geborgenheit. Als ich klein war, wollte ich immer weg von zu Hause. Wenn ich dann bei einer Freundin übernachten wollte, überkam mich solch ein schmerzhaftes Heimweh, dass meine Eltern mich häufig nachts abholen mussten.
    Sehr oft gab es wegen des Mittagessens erbarmungslose Streitereien mit meiner Mutter. Wenn ich nicht mehr essen konnte, blieb meine Mutter stur: »Du stehst nicht eher auf, bevor Du nicht Deine Portion aufgegessen hast!« Während meine beiden Geschwister schon längst weg waren und meine Mutter die Küche sauber machte, saß ich, im Inneren erstarrt, vor dem halbleeren Teller. Irgendwann kam es dann meistens zu dem halbherzigen Kompromiss, dass ich drei Bissen essen sollte, was ich dann tat und zerknirscht und mit einem unguten Gefühl den Mittagstisch verließ.
    Mutter war furchtbar verklemmt
    Meine Pubertät war geprägt vom Rückzug von meinen Eltern. Als ich 12 Jahre alt war, nahm meine Mutter das Erlebnis, dass ich mit zwei Schulfreundinnen von einem Exhibitionisten angesprochen wurde, zum Anlass, mich über männliche Bedürfnisse aufzuklären. Sie war furchtbar verklemmt. Das wollte ich nicht ein zweites Mal erleben, so dass ich danach alle wichtigen Gefühls- und Aufklärungsfragen mit meiner älteren Schwester abhandelte, die für lange Zeit eine verständnisvolle und solidarische Freundin wurde. Meine Pubertätsgefühle und Erfahrungen [164] mit Jungen sprach ich in Gegenwart meiner Eltern nicht mehr an. Nur ein einziges Mal habe ich einen Teenager-Freund mit nach Hause gebracht. Ich erinnere mich an eine völlig verkrampfte Atmosphäre und an peinliches Schweigen beim Abendbrot. Manchmal stellte meine

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