Kriegsenkel
mit Bravour gelang, indem er Unwahrheiten über Jürgen in den Raum setzte. Wieder ein Fall von Mobbing. Der Konflikt eskalierte, und es zeigte sich, dass auch Jürgens Frau nicht mehr hinter ihm stand. Die frisch geschlossene Ehe zerbrach.
Ich frage mich, wie Jürgen Petersen überhaupt auf die Idee kommen konnte, Mutter und Geschwister würden sich mit ihm über seine Erfolge freuen. War es nicht gerade seine Familie, die ihm – im Unterschied zu seinem Freundeskreis – jede Rückenstärkung verweigerte und sich in keiner Weise für ihn interessierte? Ich frage laut, ob ihn denn sein Therapeut nicht gewarnt habe? Nein, antwortet Petersen, in dieser Phase habe er gerade eine Therapiepause gemacht.
Eine unstillbare Sehnsucht nach Trost
Gegen Ende unseres Gesprächs sagt Jürgen Petersen, es gäbe noch etwas, das ich von ihm wissen sollte. Er spüre deutlich, dass der Trost, den seine Mutter schon nicht bekommen habe, sich eine Generation später als Defizit auch in seinem Leben ausgebreitet habe. »Mir fehlt der Küchentisch, wo ich mich hinsetzen kann und sagen kann: ›Es läuft gerade Scheiße‹. Und alle sagen: ›Oje, aber glaub uns, es wird auch wieder besser.‹ Das passiert nicht. Das gibt’s nicht. Dieser Küchentisch müsste riesengroß sein, und ein Chor von Hunderttausend müsste mich trösten.« Es herrscht eine Weile Schweigen. Dann sagt Petersen, er wisse, er müsse nun grundlegend etwas ändern. Er sei 40 Jahre alt. Im Unterschied zu gesunden Gleichaltrigen stehe ihm nur noch eine relativ kurze Zeitspanne zur Verfügung, [157] in der sich seine Beeinträchtigungen in Grenzen halten werden.
Ich stimme ihm zu und frage ihn, ob er einmal erwogen habe, den Kontakt zu seiner Mutter für eine geraume Zeit zu unterbrechen. »Nein«, sagt er. »Das kann ich nicht. Wenn ich den Kontakt zu meiner Mutter abbreche, löst sie sich in Luft auf. Das jedenfalls ist mein inneres Bild dazu«.
Ich denke, er weiß alles über die Hintergründe seiner Wehrlosigkeit. Frauen, die als Kinder vergewaltigt wurden und nie Beistand und Trost erfahren haben, sind – und das ist die Tragik auch für die folgende Generation – in den meisten Fällen Gift für ihre Söhne. Denn solche Mütter sorgen dafür, dass ihnen schon in den ersten Lebensjahren alle Regungen von Aggressivität ausgetrieben werden. Nichts ist leichter, als ein Kleinkind zu manipulieren und seinen Eigenwillen zu brechen. Eine Mutter muss in diesem Fall gar nicht grob vorgehen, es reicht, den Säugling mit Abwesenheit zu strafen. Manche Frauen verlassen deshalb nicht einmal den Raum. Ist ihr Sohn »böse«, schalten sie die innere Verbindung zu ihm einfach ab. Er wird dann nur noch mechanisch versorgt. Das Kind wiederum merkt, es kann seine Mutter nicht mehr erreichen und gerät in Panik, die sich zur Todesangst steigern kann. Solche Ängste sind ungemein haltbar – siehe: »Wenn ich den Kontakt zu meiner Mutter abbreche, löst sie sich in Luft auf.« Ist das Kind dann erwachsen geworden, aber immer noch nicht in der Lage, sich innerlich von seiner Mutter zu lösen, geht ihm womöglich nach und nach die Lebenskraft aus.
Ich wünsche sehr, dass Jürgen Petersen endlich aufbricht und sich holt, was ihm zusteht. Das wünsche ich ganz eigennützig, denn ich erhoffe von ihm noch viele gute Hörspiele und Theaterstücke.
[159] Neuntes Kapitel
LEBEN LERNEN
[161] Ein empörter Brief
Anja Freisecke* nahm Kontakt mit mir auf, nachdem sie mein Buch »Die Deutsche Krankheit – German Angst« gelesen hatte. Darin hatte ich mich mit den gesellschaftlichen Folgen der langen Schatten von NS-Zeit und Krieg auseinandergesetzt. Sie schrieb, sie sei ein Kriegsenkel, sie beobachte die Generation der Kriegskinder schon seit geraumer Zeit und habe ihre Schlüsse daraus gezogen. Ob ich an einem Bericht interessiert sei? Anja Freisecke weckte mein Interesse, weil ihr Brief nicht nur ein bisschen melancholisch klang, sondern weil sie stellenweise auch ihrer Empörung Luft machte. Sie kritisierte die Kriegskinder heftig – ein Tonfall, den ich von anderen Kriegsenkeln nicht gewohnt war. Hier ist ihr von mir leicht redigierter Bericht.
Auf meinem täglichen Schulweg mit dem Linienbus durch die Bochumer Vorstadtgebiete begleiteten mich in meiner Jugend Anfang der 80er Jahre zwei grundlegende Gefühle: Irgendetwas stimmt hier in dieser Umgebung nicht. Und: ein schmerzhaftes Trauergefühl, besonders älteren Menschen gegenüber. Beide Gefühle konnte ich nicht erklären,
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