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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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studierte, hatte es für mich oberste Priorität, finanziell unabhängig zu sein. Durch meine unkomplizierte und flexible Art, die ich gelernt hatte, um mir meinen Platz in der Familie zu sichern, habe ich nie Probleme gehabt, Jobs zu bekommen. Und um meine Unabhängigkeit zu sichern, bin ich beruflich nicht wählerisch gewesen, zumal mir ein Bedürfnis völlig fremd war: Karriere zu machen. Mir ging es darum, in Ruhe gelassen zu werden.
    Gravierender waren Tiefschläge in meinem privaten Leben, vor allem in Bezug auf Freundschaften und Beziehungen. Aus der Angst heraus, abgelehnt und verlassen zu werden, habe ich stets das Gefühl gehabt, ich müsse mehr geben als andere Menschen, um Freunde zu haben. Ich habe den Menschen ihre Wünsche von den Lippen abgelesen und versucht, es allen recht zu machen. Oft blieb ich enttäuscht zurück, wenn ich mal wieder die Erkenntnis hatte, ausgenutzt worden zu sein.
    Die Bedrückung, die ich in meiner Kindheit und Jugend gefühlt [167] habe, wurde aus meiner jetzigen Sicht auch entscheidend von der Stadt widergespiegelt, in der ich aufwuchs. Im Ruhrgebiet lebten wir in einer auf Kriegsschutt hektisch und mit schlechtem Geschmack aufgebauten Umgebung. Wenn ich früher als Kind und Jugendliche vor diesen erbärmlich hochgezogenen 50er Jahre Klötzen stand, überkam mich ein trostloses und hoffnungsloses Gefühl, eben jene Empfindung, die ich auf meinen täglichen Fahrten durch die Stadt hatte: »Hier stimmt etwas nicht.« Mein Eindruck ist heute: Um mich herum konnte nichts richtig atmen, weil alles auf Trümmern aufgebaut war. Auf Kriegsmüll und teilweise auch mit Kriegsmüll waren Wohnklötze errichtet worden, in denen Menschen wohnten, die diese Trümmerberge verursacht hatten. Nur redete kein Mensch darüber. Der Schein und die Oberflächlichkeit dieser ganzen Inszenierung sind mir jetzt klar.
    Balkone wie Schießscharten
    Heute weiß ich, dass die Häuser von den Menschen gebaut wurden, die noch völlig unter dem nationalsozialistischen Bann standen: Die Gebäude, die sie mit ihrem Lieblingsgemisch, dem Beton, errichteten, sehen aus wie Bunker, und die Balkone muten oft wie Schießscharten an.
    Als mir in meiner Jugend deutlich wurde, was für eine ungeheure Negativität und Zerstörungswut von den Menschen in Deutschland ausgegangen war, wurde es in meiner Seele eisig, obwohl ich das Wesentliche noch gar nicht erkennen konnte: Wir haben als Jugendliche, ohne es zu ahnen, denen, die dieses nationalsozialistische Terrorsystem erschufen und/oder an ihm zerbrachen, tagtäglich in die Augen gesehen! Wir haben mit ihnen in einer Gemeinschaft gelebt: mit den Menschen, die Krieg, rohe Gewalt, Deportationen von geliebten Freunden, Verwandten und Nachbarn, Hass und Angst, verbrannte Leichen, [168] Massenmord und Bombennächte miterlebt haben und auch selber aktiv daran beteiligt waren, weil sie Teil des Systems waren. Als ich diese unbegreiflich bleiernen Gefühle mit mir herumschleppte, war die Kriegsgeneration in Deutschland gerade mal ins rüstige Rentenalter gekommen.
    Die Folge ist, dass ich allen konventionellen und »stabilen« Gesellschaftsformen grundsätzlich misstraue, denn ich bin davon überzeugt: Moralische Werte können mit einem Augenaufschlag umgedeutet und in ihr Gegenteil umgewandelt werden. Auch empfinde ich eine tiefe Abneigung gegenüber Konventionen und konventionellen Lebensweisen. Ich lebe nicht mit der Gesellschaft, sondern ich fühle mich als Beobachterin dessen, was um mich herum stattfindet. Früher habe ich Deutschland eine durch und durch negative Haltung entgegengebracht. Wenn ich im Ausland war, habe ich mich meines Deutschseins geschämt.
    Die Probleme zwischen meiner Elterngeneration und uns Kindern beruht meiner Meinung nach auf folgendem Konflikt: Es ist die Schieflage, in einer sogenannten Wohlstandsgesellschaft aufzuwachsen, in der man ständig gesagt bekommt, dass man nicht klagen darf, weil man es doch so gut habe – und subtil die unverdauten Mangelerscheinungen der Großeltern- und Kriegskindergeneration aufgebürdet bekommt, die so gar nicht in eine ›heile Welt‹ passen.
    Wenn ich die Generation meiner Eltern anschaue, sehe ich über ihrem Kopf immer eine Sprechblase hängen, in der mit fetter Schrift steht: ICH! ICH! ICH! Ich sehe eine maßlose und infantile Ich-Bezogenheit, die Verständnis und Offenheit für andere Menschen, andere Generationen, andere Lebensmodelle und völlig neue Lebensbedingungen blockiert. Ich habe die Erfahrung

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