Kriegsenkel
Fernsehdokumentationen verbreiteten Klischee in keiner Weise entsprach. Jüngere Menschen, die sich für diese Zeit interessieren, ermitteln bei genauem Nachfragen völlig unterschiedliche [189] Typen – jeder der heutigen APO-Opas stellt sich als »die Ausnahme« dar.
Als bei Katharina, der Ältesten unter drei Geschwistern, der Einschulungstermin näher rückte, fanden ihre Eltern, nun sei der günstige Zeitpunkt gekommen, um irgendwo auf dem Land eine Wohngemeinschaft zu gründen. Es verstrich ein weiteres Jahr, bis sich für acht Erwachsene und drei Kinder das geeignete Mietobjekt fand – ein Bauernhof inmitten eines hessischen Dorfes. Das hatte zur Folge, dass Katharina mit einem Jahr Verspätung in die erste Klasse kam, dann allerdings zusammen mit ihrem 12 Monate jüngeren Bruder. Heute fragt sie sich, wie sie ohne ihn die ersten Schuljahre überstanden hätte. Wenigstens ein vertrautes Gesicht in der Klasse! Wenigstens einer, der begriff, wo sie herkam! Der Kontrast zu den Dorfkindern war unüberbrückbar. Katharina wurde heftig und ausdauernd gemobbt. Man drohte ihr Prügel an. Die Lehrerin behandelte die beiden Außenseiter mit Verachtung und nannte sie vor der ganzen Klasse »Zigeunerkinder«.
Katharina erfuhr als Kind alle Nachteile und keinen einzigen Vorteil eines Dorflebens. Sie fühlte sich ständig unter Kontrolle und war doch ohne Schutz. »Hübsch war der Ort«, berichtet sie, »sogar malerisch mit seinen Fachwerkhäusern, aber es handelte sich um das spießigste Dorf, das man sich vorstellen kann. Im zweiten Schuljahr war ich dann völlig verstört. Ich konnte nichts lernen. Ich besuchte dann eine Reformschule in Frankfurt.«
Der Bruch zu ihrem früheren Leben in Berlin hätte für Katharina schlimmer nicht sein können. Sie war entwurzelt worden, und zwar ziemlich genau im gleichen Alter wie ihre Eltern, die als Flüchtlingskinder Ostpreußen hatten verlassen müssen. Im Unterschied zu ihnen erlebte Katharina allerdings keine Trennung von Mutter und Vater. Obwohl deren Ehe scheiterte und Ulrike von Thalheim fortan in der WG mit ihrem neuen Freund ein Zimmer teilte, zog Vater Alf nicht aus. Er wollte weiterhin mit seinen Kindern zusammenwohnen. Er arbeitete in [190] einem kleinen linken Verlag in Frankfurt, blieb aber seinem bürgerlichen Outfit weitgehend treu, bis auf seinen Bart, dem er nun mehr Volumen gönnte, so dass er aussah wie ein Urenkel vom alten »Charly Marx«. In der antiautoritären Frankfurter Pädagogenszene, wo er sich weiterhin für Kinderläden einsetzte, auch wenn seine eigenen Kinder ihnen inzwischen entwachsen waren, hatte er einen Ruf wie Donnerhall. Seine Dorf-WG, dreißig Kilometer entfernt, entwickelte sich zu einem Treffpunkt für Gleichgesinnte. »Vater war eine Polit-Autorität. Er genoss ein hohes Ansehen in der Szene«, erklärt Katharina.
Eine Pubertät unter Beobachtung
Während ihrer Pubertät habe sie sich sehr unter Beobachtung gefühlt, berichtet sie weiter. Offenbar hielten es die Erwachsenen für ihre Pflicht, hilfreich zu sein, wenn bei einem jungen Menschen plötzlich die Hormone verrückt spielten. Vielleicht, mutmaßt Katharina, hätten sie selbst nicht pubertieren dürfen, oder sie hätten sich damals gern mehr Aufmerksamkeit von ihren Eltern gewünscht. »Die Erwachsenen sind in mich eingedrungen, sie wussten immer alles von mir. Schrecklich fand ich das! Wenn ich mich schützen wollte, musste ich allein in den Wald gehen.«
Andererseits brach für Katharina eine gute Zeit an, denn auch die Dorfkinder, mit denen sie eingeschult worden war, kamen in die Pubertät und damit drehte sich der Wind um 180 Grad. Nun wurden die verachteten und beschimpften Außenseiter um ihr bizarres Zuhause beneidet. In der Wohngemeinschaft war immer etwas los, es kam ständig Besuch, es gab laute Rockmusik, es wurde viel gefeiert. »Wir wurden von den Dorfjugendlichen richtig bewundert«, berichtet Katharina. Da war Michaela, ihre Freundin, die furchtbar unter der Enge ihres Elternhauses litt, wo mittags um Punkt zwölf das Essen auf den Tisch kam. »Bei Michaela war es immer ordentlich. Sie durfte eigentlich nicht mit [191] mir spielen, na ja, irgendwann konnten die Eltern Michaela nicht mehr bremsen.« Die Dorfjugendlichen gingen in der WG ein und aus, und Katharina wurde in ihre Mofagang aufgenommen.
»Plötzlich galten unsere Eltern als cool«, erinnert sie sich. An dieser Stelle unseres Gesprächs geht sie näher auf ihr Verhältnis zu ihren geschiedenen
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