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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Tage zusammen, und zeitweise konnte ich seine Gegenwart kaum ertragen. Seine Fahrigkeit ist enorm. Als unsere Mutter noch lebte, war Bernd etwas weniger unruhig. Sie hat beruhigend auf ihn gewirkt, ihn auch zur Ruhe ermahnt.« Die Mutter starb im Alter von 65 Jahren an Krebs.
    Marianne Hagen hatte Zeit ihres Lebens viel gelesen. Eine von Sandras Lieblingserinnerungen: Es sind Ferien und ihre Mutter sitzt, in ein Buch versunken, in der Abendsonne. Es war [212] ihr gelungen, auch ihre beiden Töchter für die Welt der Bücher zu begeistern. Außerdem muss sie die heranwachsenden Mädchen gut beobachtet haben, denn mit ihren Buchgeschenken traf die Mutter fast immer ins Schwarze. Sie sprach mit ihnen über die Bücher, über Schullektüren und über ihre Alltagsbekümmernisse. Als Sandra mit acht oder neun Jahren anfing, im Fernsehen die Tagesschau zu sehen und aufgeschreckt von Nachrichten über Kriege und über die atomare Bedrohung einige Zeit schlecht schlief, gelang es der Mutter, auf ihre Tochter einzugehen. Sie versicherte ihr damals, dass alle Politiker Angst vor einem weiteren Krieg haben und dass dies der überzeugendste Grund dafür sei, warum ein solcher Krieg nicht stattfinden würde. Sandra ließ sich von den Argumenten beruhigen und die Schlafstörungen verschwanden.
    Angst vor dem Atomkrieg
    Als sie älter wurde, steigerte sich ihre Kriegsangst, genauer die Angst vor der Atombombe – vor allem auch durch das Buch von Gudrun Pausewang, das die Auswirkungen eines Atomkriegs in Deutschland zum Thema hat. »Das war ja der Bestseller meiner Generation«, sagt Sandra Hagen, »aber ich fand, es war ein gruseliges Buch. Heute meine ich: Es war verantwortungslos, Kinder und Jugendliche diesem Schreckensszenario auszusetzen, dass keinerlei Rettung in Aussicht stellte.« Nach der Lektüre hatte sie zwei Wochen lang Schmerzen gehabt, für die es keine medizinische Erklärung gab.
    Während der Sommerferien war die Stimmung bei den Hagens völlig anders. Es gelang ihnen, sich als Familie zu entspannen. Es war also nicht durchgängig so, dass die Eltern in einem Kokon lebten und im Gefühlskontakt nicht erreichbar waren. »In meiner Familie«, erläutert Sandra, »gab es nur diese eine Übereinstimmung: Urlaub machen in der Schweiz ist etwas [213] sehr Schönes.« Regelmäßig fuhren sie in das Nachbarland – nicht in die Alpen, sondern in einen kleinen Ort auf der Schweizer Seite des Bodensees. Die Tochter erzählt: »In der Schweiz waren meine Eltern mehr bei sich. Ich glaube, das war auch der Grund dafür, dass es dort – ganz anders als zu Hause – jedes Mal zu einem Ehekrach kam. Da haben wir Kinder endlich mal etwas von ihrer Lebendigkeit mitgekriegt.« Und sie fügt hinzu, in der Schweiz sei es ihr selbst zum ersten Mal möglich gewesen, unbeschwerte Lebensfreude zu empfinden. Wenn die Ferien zu Ende gingen, habe sie oft von Deutschland als Gefängnis geträumt. »In der Schweiz konnte ich meine Geschichte ablegen und Vertrauen empfinden. Bis heute zieht es mich dorthin. Ich muss also sagen: Meine Eltern haben auch vieles richtig gemacht, die schönen Urlaube, die Bücher … Es wäre sonst vielleicht alles noch viel schlimmer gekommen. Immerhin haben wir überlebt, und wir sind in keine Drogensucht geraten.«
    Als die Gesundheit des Vaters durch einen schweren Autounfall dauerhaft beeinträchtigt wurde und er deshalb in den vorzeitigen Ruhestand ging, kauften die Eltern sich eine Ferienwohnung. Dort verbrachten sie mehrere Monate im Jahr. »Man merkte, dass Mutter sich in der Schweiz sicher fühlte«, sagt Sandra. »Wenn sie anrief, klang ihre Stimme einfach nur glücklich.« Wer war Marianne Hagen? Um sie zu erfassen, muss man wissen, dass sie vaterlos aufwuchs. Sie hat ihren Vater nie kennen gelernt; er starb als Soldat. Ihre Töchter glauben, die Mutter habe deshalb nie getrauert. Darüber hinaus war sie ein Flüchtlingskind. Es ist anzunehmen, dass sie sich von ihren Verlusten und von den Schrecken der Vertreibung als Dreijährige nie mehr erholte.
    [214] Schneller, die Russen kommen
    Ihre Töchter kennen nur wenige Details. Die Großmutter hatte ihnen wiederholt von einem Versteck auf einem Friedhof hinter den Grabsteinen erzählt und dass die kleine Marianne während der Flucht immer wieder gerufen habe: »Schneller, schneller, die Russen kommen«.
    Sandra und ihre Schwester Stephanie kennen diese Fakten schon lange, aber sie haben bis vor wenigen Jahren emotional nicht erfassen können, welche

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