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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Bedürfnisse zurückzustellen. Erwachsene, die nicht gut auf sich achten, sind ständig in Gefahr, ausgesaugt zu werden. Und genau das scheint bei Marianne und Bernd Hagen der Fall gewesen zu sein. Sie waren keine entspannten Eltern. Es wurde nicht oft gestritten in der Familie, aber ein Unterton von Genervtheit schlich sich häufig ein.
    Mutter Marianne explodierte nicht, wenn ein Kind stolperte und dabei ein Glas Kirschsaft über die helle Teppichauslegeware verschüttete. Sie sagte nur mit ärgerlich resignierter Stimme: »Hast du es wieder geschafft!« Heute ist Sandra Hagen klar, dass ihre Eltern unter anderem dadurch Dampf abließen, dass sie ironisch daherredeten oder über Abwesende lästerten. Ob Freunde, Verwandte oder Bekannte – über jede Person außerhalb der Familie wurde abfällig geredet oder gewitzelt. Als Kinder verstanden Sandra und Stephanie nicht, warum ihre Eltern dieselben Menschen, über die es kaum etwas Gutes zu sagen gab, bei einem Wiedersehen hocherfreut begrüßten und viele Stunden mit ihnen verbrachten.
    Sobald die Mädchen zu erkennen gaben, dass ihnen ein anderer [210] Erwachsener besonders gefiel, wurden sie von Vater oder Mutter umgehend auf dessen Schwachstellen hingewiesen. Verächtlichkeit sei ein zentrales Motiv in ihrer Familie gewesen, stellt Sandra fest. Auf diese Weise hätten die Eltern ihren Kindern ungewollt beigebracht, bei Personen außerhalb der Familie auf der Hut zu sein. »Wir lernten: Jemand, der uns mit Herzlichkeit begegnet, wird hochwahrscheinlich hinter unserem Rücken abfällig über uns reden. Fazit: Ein Erbe, das wir von unseren Eltern haben, ist ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Welt.«
    Wäre Sandras Mutter ein solcher Vorwurf zu Ohren gekommen, sie hätte völlig verwundert reagiert. »Aber Kinder«, hätte sie zu ihren erwachsenen Töchtern gesagt, »das war doch nicht so gemeint. Ihr hättet Bernd und mich nicht so ernst nehmen sollen.« Die eine Seite war, dass Marianne und Bernd Hagen die perfekten Eltern sein wollten, und die andere Seite, dass sie sich wenig in Kinder einfühlen konnten. Nur so lässt sich erklären, warum sie eine zentrale Erziehungsregel ignorierten, wonach man im Beisein von Kindern nicht schlecht über Abwesende redet. Solange das abstrakte Denken noch nicht entwickelt ist, fehlt das Sensorium dafür, dass Erwachsene einem bestimmten Menschen zur gleichen Zeit mit völlig widersprüchlichen Gefühlen begegnen können. Genauso wenig verstehen Kinder Ironie.
    Hinter dicken Mauern
    Ihre Familie, erklärt mir Sandra Hagen, habe wie in einer Burg gewohnt, deren Hauptgesetz lautete: Innerhalb der Mauern sind die Guten, außerhalb sind die Fremden, die Unberechenbaren. Aber darüber hinaus habe jedes Mitglied der Burgfamilie isoliert in seinem eigenen Turm gewohnt. Stephanie und sie hätten aber immerhin noch einen eigenen Draht gehabt, [211] der den gelegentlichen Austausch von Botschaften ermöglichte, von Fenster zu Fenster sozusagen.
    Marianne Hagen war ein stiller, zurückhaltender Mensch. Von ihren Töchtern wird sie sogar als extrem verschlossen beschrieben. »Sie war sanft und hatte eine sehr angenehme Wirkung auf andere. Und doch muss ich aus Kindersicht sagen, dass sie irgendwie unlebendig war, gefühlsmäßig nicht erreichbar«, sagt Sandra. »Sie hat alle starken Gefühle unterdrückt, ihre negativen wie die positiven.« Offenbar konnte die Mutter körperliche Nähe zu ihren Kindern nicht gut aushalten. Bei der Versorgung ihrer erstgeborenen Tochter trug sie stets einen Kittel. Gewissenhaft hielt sie die Entwicklungsschritte ihrer Kinder schriftlich fest. Die Protokolle ähnelten Krankenberichten. Größe, Gewicht, Temperatur, alle Werte waren penibel notiert. Aber so wichtig ihr das körperliche Wohl ihrer Töchter war, so wenig konnte sie sich in die seelischen Nöte, die jede Kindheit mit sich bringt, einfühlen. Sie konnte ihren Töchtern keinen Trost geben. Stattdessen versuchte sie es mit Beschwichtigungen. Als die Mädchen klein waren, sagte sie: »Ihr müsst keine Angst haben, ich bin doch für euch da.« Und als sie Teenager waren: »Nehmt das doch alles nicht so schwer!«
    Vater Bernd wird von seiner Tochter Sandra als unruhiger Geist, als Hans Dampf in allen Gassen geschildert. Er könne sich bis heute nur selten auf ein ernsthaftes Gespräch konzentrieren, er springe ständig auf oder wechsle das Thema, sagt sie. »Er ist mein Vater, auf eine alte Art habe ich ihn lieb. Aber wir waren jetzt ein paar

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