Kriegsenkel
Sie rutschen in einen Graubereich. Sie sind in Rollen erstarrt. Im vergangenen Winter haben sie mich in Berlin besucht. Das geschieht so gut wie nie. Aber es hat sie nichts interessiert. Sie blieben am Brandenburger Tor stehen; sie wollten den Reichstag mit der Kuppel nicht sehen. Sightseeing hätte ich mir sparen können. Vom Vater kam nur ein einziger Kommentar. Da gingen wir am Hotel Adlon vorbei. Er zeigte auf einen Livrierten und sagte: ›Der stand vor zehn Jahren auch schon da.‹
Ich betreibe keine Familienforschung. Überrascht Sie das? Dachte ich mir. Aber warum muss ich wissen, was meine Eltern als Kinder konkret erlebt haben? Ich werde auch älter, und die Zeit vergeht – es gibt schönere Themen. Ich bin mit Fernsehbildern voll gestopft darüber, was 1945 los war. Ich frage mich: Wenn ich etwas Neues über meine Eltern erführe, dann wüsste ich vielleicht: Aha, deshalb sind sie so, wie sie sind. Aber was mache ich dann mit den Informationen? Auf sie zugehen? Ihre Nähe suchen – um dann wieder nach fünf Minuten heulend auf der Couch zu sitzen? Nein, ich kann nichts für sie tun. Ich kann nur für meine eigene Familie etwas tun.
Soweit die Geschichte von Ulrich Schrader. Fünf Monate nach unserem Gespräch in Berlin telefonierten wir miteinander, und er erzählte mir, er habe wieder einmal seine Familie besucht: Zum ersten Mal sei der Fernseher ausgeschaltet worden. Darüber [237] hinaus berichtete er mir von einem auch für ihn völlig unerwarteten beruflichen Erfolg. Genaueres hier zu sagen, könnte seine Anonymität schwächen, denn bei Künstlern führt Erfolg immer auch zu einem größeren Bekanntheitsgrad. Bleibt also nur zu sagen: Glückwunsch!
Eine Tochter auf Distanz
Auch von Nora Kolberg* erfuhr ich, wie stark sie sich von ihrer Mutter abgrenzt – in ihrem Fall obwohl oder weil sie mit ihr unter einem Dach lebt. Gern hätte ich die Ärztin in ihrer privaten Umgebung getroffen, aber das war aus Zeitgründen nicht möglich. Sie und ihr Mann – Eltern einer achtjährigen Tochter – haben vor zwölf Monaten Noras Mutter zu sich ins Haus genommen. Sie hat dort eine Einliegerwohnung. Ich erfuhr, die Mutter sei nur mit Mühe zu ertragen, auch deshalb, weil sie dauernd rede und nie anderen zuhöre. Die gute Stimmung im Haus habe durch ihre Anwesenheit Schaden genommen. Das anfängliche gemeinsame Abendessen hätten sie und ihr Mann wieder gestrichen. Eine Lösung des Problems sei nicht in Sicht.
Ich bin mit Nora Kolberg an ihrem Arbeitsplatz verabredet. Die Medizinerin ist Expertin für Erbkrankheiten und leitet eine genetische Beratungsstelle in Süddeutschland. Als ich dort eintreffe, ist sie noch im Gespräch. Nach einer Weile öffnet sich die Tür. Eine schwangere Frau tritt heraus, dreht sich noch einmal um, und ich höre, wie sie sagt: »Sie haben es mir etwas leichter gemacht, wissen Sie. Ich hatte eine kühle Wissenschaftlerin erwartet. Stattdessen eine Frau Doktor, die supermenschlich ist. Danke für alles!« Die Ärztin erscheint im Türrahmen und legt ihr kurz die Hand auf die Schulter. »Auch für mich«, erwidert sie, »war es gut, dass man so offen miteinander reden kann.«
Als ich dann Dr. Kolberg in ihrem Büro gegenübersitze, erklärt sie mir, diese Frau erwarte ein Kind mit einem Turnersyn [238] drom. Hierbei könne man keine eindeutigen Aussagen über den Grad der Missbildung machen. Bei Turner gebe es alles: relativ leichte und sehr große Behinderungen. Viele Menschen seien normal intelligent, andere geistig behindert. Aber kleinwüchsig seien sie meistens. Sie hätten einen sogenannten Flügelhals, und sie kämen nicht in die Pubertät. »Es ist also vor allem eine körperliche Behinderung«, fügt sie hinzu. Ich frage sie, ob diese Frau das Kind bekommen werde, und sie meint, es sei schon möglich. »Sie traut sich zu, mit einem behinderten Kind zu leben. Und sie haben ja gesehen, wie weit die Schwangerschaft schon ist.« Es gebe keine ›gute‹ Lösung. Jede Entscheidung – Abbruch oder das Kind bekommen – habe Folgen, auch schlimme Folgen. In diesem Fall läge ein sehr schwerer Grad von Behinderung vor. Vielleicht werde das Kind schon vor der Geburt sterben. »Aber es geht bei solchen Gesprächen nicht nur um Fakten. Diese Mütter brauchen Kriterien, die darüber hinausgehen. Sie brauchen Klarheit über ihre Gefühle.«
Meine Gesprächspartnerin ist eine Frau von Anfang Vierzig, hoch gewachsen, schmales Gesicht, sehr helle Haut. Das rötliche Haar trägt sie
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