Kriegsenkel
Indoktrinierung an, in der sie aufwuchs. Sie hat Ressentiments gegen die Polen, gegen die Russen. Sie hat da ganz klar die Einteilung nach Rassenmerkmalen, wenn sie von deren Wesen, von deren Gesichtern [241] spricht. Ein typischer Satz von ihr lautet: ›Die sahen schon so slawisch aus‹. Slawisch ist für sie gleichbedeutend mit brutal. Vater hat dazu geschwiegen. Er war, wie gesagt, ruhig und introvertiert. Er hat sich von seiner Frau, aber auch vor der modernen Welt zurückgezogen. Dadurch hinderte er seine Frau daran, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Man wohnte also praktisch ohne Kontakte auf dem Dorf. Es wurde viel ferngesehen. Wenn Vater sich aufregte, dann über die Linken, er schimpfte auch über »die Sozis«, die galten in seinen Augen als ganz links. Ganz schlimm dann die Zeit der RAF, als die ehemaligen Wehrmachtssoldaten als Mörder beschimpft wurden. Weil mein Bruder und ich links waren, warf er uns mit den RAF-Sympathisanten in einen Topf. Er resignierte und zog sich nun völlig auch von uns Kindern zurück.
Meine Mutter war davon überzeugt, Vaters Depressionen seien angeboren. Sie sagte: ›Er ist gefangen in seinem Körper‹. Ich habe lange Zeit gedacht, ich hätte diese Veranlagung geerbt – sie sei mein Schicksal –, und wenn ich in einer depressiven Phase stecke, glaube ich das heute noch. Unsere Mutter sah es als ihre Pflicht an, für ihren kranken Mann da zu sein. Sie war fürsorglich, aber dabei nicht liebevoll. Sie hätte ihn verlassen können, doch er tat ihr leid und zudem, so denke ich, konnte sie sich neben ihm als die Vitale profilieren. Sie sagte immer: ›Es ist zwar schwer mit Vater, aber das ist nun mal unsere Aufgabe als Familie.‹ Aber offenbar war es eine Aufgabe, die sie überforderte, denn noch zu seinen Lebzeiten begann sie, anklagende und schimpfende Selbstgespräche zu führen, gegen Vater, gegen uns, gegen die Welt. Sie tut es bis heute – beim Staubsaugen.
Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so bitterernst wäre: Mutter saugt einen Teppich und schimpft und predigt laut vor sich hin. Sie zieht auch über uns her, ohne darauf zu achten, ob wir in der Nähe sind. Selbstgespräche im Schutz des Staubsaugers: Wir sollen sie nicht hören – und wir sollen sie hören! Früher, wenn wir Kinder mit Vater Schach oder Skat [242] spielten, sorgte sie demonstrativ für viel Lärm bei der Hausarbeit. Sie sah sich dann als das Aschenputtel.
Mutter, 1930 geboren, ist seit ihrem 10. Lebensjahr ohne Vater aufgewachsen. Er ließ sich scheiden und brach den Kontakt zur Familie komplett ab. Danach hat meine Mutter ihn nur noch gehasst. Dann die Flucht aus Ostpreußen. Auch ihr Hund blieb zurück. Sie hat den Verlust der Heimat nie verkraftet. Sie ist nie wirklich hier im Westen angekommen, sondern ist ganz rückgebunden an diese Zeit. Da kommen die Maßstäbe her, da kommen die Freundschaften her. Ich bin groß geworden mit Mutters Schilderungen von ihrem geliebten Schloßberg in Ostpreußen. Sie hat ihr Elternhaus aus ihrem Gedächtnis gezeichnet, ein schönes, gutbürgerliches Haus. Ständig hat sie von Schloßberg erzählt, und so entstand in mir eine fiktive Heimat. Einmal kam ihre Schwester zu Besuch, was selten geschah. Sie sagte: ›Damals, in Schloßberg …‹ und erklärte mir: ›Das ist da, wo wir herkommen.‹ Und ich dachte nur: Was glaubt die, wo ich jeden Tag bin?
Alles, was schön und gut ist, wird zerstört
Ich wuchs heran mit der Vorstellung: Alles, was schön und gut ist, wird zerstört. Es kam mir so vor wie ein Naturgesetz. Die Geschichten aus Mutters Vergangenheit, als die Welt noch heil war, enden alle mit den Sätzen: ›Das gibt es auch nicht mehr. Den gibt es auch nicht mehr. Von diesem Dorf ist nichts mehr übrig.‹ Seit ich denken kann, ist für mich der Beginn von etwas neuem Schönen immer auch etwas Schreckliches. Man darf sich nicht uneingeschränkt an Schönem freuen, denn es trägt immer schon die Zerstörung in sich. Es zieht sich durch mein ganzes Leben, das ich nie etwas richtig gut finden konnte. Das gab es nicht. Was ich gut fand, das fand ich gleichzeitig auch doof. Ich bin jemand, der immer ein Haar in der Suppe findet.
[243] Mutter hat früh Verantwortung übernommen, auch für ihre beiden kleinen Geschwister, denn sie musste ja ihre eigene Mutter entlasten. Als ich in die Pubertät kam, konnte sie damit nichts anfangen – sie hatte selbst keine Pubertät gehabt. Es war eine schreckliche Zeit für mich, ich habe fast
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