Kriegsenkel
ihre eigene Zukunft zu gestalten, musste sie sich schon früh massiv von den Eltern abgrenzen, die der Vergangenheit verhaftet blieben.
Die folgende Geschichte berichtet von einer noch radikale [248] ren Grenzziehung. Tina Großschmitt* sprach mich nach einer Lesung an. Sie sagte, viele der typischen Kriegskinderthemen seien ihr aus eigener Erfahrung durch das Verhalten ihrer Eltern vertraut, im Gegensatz zu diesen aber könne sie den Zusammenhang sehen und verstehen. Und dann kam der Satz, der mich überraschte: »Ich habe mich von meinen Eltern getrennt.«
Wir verabredeten uns zu einem ausführlichen Gespräch in ihrer Heimatstadt mitten im Ruhrgebiet. Tina Großschmitt lebt allein und ist kinderlos. Beruflich befindet sie sich auf der Erfolgsspur. Als Informatikerin leitet sie ein Team in einem großen Software-Konzern. Mir gegenüber zeigt sie keine Scheu, über Intimes zu reden. Ihr Übergewicht ist unübersehbar. Ohne Umschweife kommt sie auf ihre Essstörung und deren Hintergründe zu sprechen: »Essen war ein Riesenthema in meiner Familie. Hunger als Strafe, Essen als Strafe. Vater schickte mich als Kind oft hungrig ins Bett.« Und sie fügt hinzu, bis heute brauche sie etwas zu knabbern am Bett – schlecht für die Zähne, aber eine große Beruhigung.
Eine typische Suchtfamilie
Vor einigen Jahren wollte sie eine Selbsthilfegruppe für Essgestörte aufsuchen, aber keine Gruppe schien ihr geeignet zu sein. Stattdessen fand sie eine gute Therapeutin. Wie sie mir kurz skizziert, stammt sie aus einer typischen Suchtfamilie. Sie sagt: »Vater ist ein aggressiver Säufer. Mutter ist total von ihm abhängig. Sie macht keinen Schritt ohne ihn.« Ihre Eltern seien unerträglich gewesen, vor allem der gewalttätige Vater, der von ihrer Mutter in keiner Weise gebremst worden sei, fügt sie hinzu. Seit drei Jahren besteht kein Kontakt mehr – auch von Seiten der Eltern kein Versuch, die Verbindung zur Tochter wieder aufzunehmen. Tina ist ihr einziges Kind.
[249] Einen Großteil ihrer knappen Freizeit verbringt sie mit der Betreuung ihrer inzwischen 90-jährigen Großmutter. »Ich helfe ihr in der Wohnung und mache für sie Besorgungen. Oma soll nicht ins Heim.« Tina liebt ihre Großmutter und sieht sie gleichzeitig realistisch. Dass diese Zeit ihres Lebens versuchte, anderen Menschen ihren Willen aufzudrängen und dass sie auch heute noch manipuliert, sieht die Enkelin inzwischen mit einem gewissen Abstand. »Ich lasse mir kein schlechtes Gewissen mehr machen, wenn Oma jammert: Nie hast du Zeit für mich!« Auffallend dabei sind für Tina immer wieder die Ähnlichkeiten dieses Verhaltens der Großmutter und das von deren Tochter, Tinas Mutter.
Die Großmutter wohnt nur drei Minuten Fußweg von Tinas Elternhaus entfernt. Aber sie versichert mir, die Nähe zu Mutter und Vater störe oder irritiere sie nicht mehr. Manchmal wisse sie gar nicht, ob die Eltern, die sechs Monate im Jahr im Ausland verbringen, daheim seien oder schon wieder verreist. Auf meine Nachfrage betont sie: »Es ist mir nicht mehr wichtig.«
Um eine so außergewöhnliche Grenzziehung gegenüber den Eltern nachzuvollziehen, muss man wissen, dass Tina schon in sehr jungen Jahren auf sich allein gestellt war. Nicht nur die Mutter sah sich außerstande, ihre Tochter vor dem prügelnden Vater zu schützen, auch Tinas Großeltern, die Eltern ihrer Mutter, ließen das Enkelkind im Stich. Wenn der Vater anfing zu brüllen, verzogen sich die Großeltern in ihre eigene Wohnung. Später, als Tina erwachsen war, nannten sie ihr als Begründung: »Da kann man nichts machen. Da darf man sich nicht einmischen.« Tina litt Todesangst, wenn ihr Vater auf sie einschlug – einmal würgte er sie sogar. Kleinigkeiten konnten einen Tobsuchtsanfall auslösen, zum Beispiel, weil sie das gemähte Gras nicht ordentlich geharkt hatte. Den Nachbarn blieb die Brutalität des Vaters nicht verborgen. Sie entschlossen sich, wegzuschauen. »Das waren anständige Bürgersleute«, erläutert Tina Großschmitt.
[250] Sie wollte die Mutter retten
Ihr Vater war von Beruf Fliesenleger, die Mutter hatte ursprünglich als Verkäuferin in der Haushaltswarenabteilung eines Warenhauses gearbeitet. Aber ihr Mann wollte nicht, dass seine Frau berufstätig war, und so gab sie die Stelle wieder auf. »Jemanden wie meine Mutter nenne ich ein erzogenes Opfer«, sagt die Tochter und beschreibt sie als einen Menschen voller Angst, der nie auffallen wollte, der sich sogar scheute, beim Kellner
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