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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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hochgesteckt. Nein, kühl wirkt sie nicht, aber sachlich. Das drückt sich auch in ihrer Kleidung aus: dunkelgrüner Wollpullover, graue Hose, flache Schuhe, kein Schmuck. Dazu passt die Osterdekoration auf ihrem Schreibtisch in keiner Weise: viele Narzissen, ein Stoffhase, gelbe Schleifen, eine Kerze, ein echtes Vogelnest mit echten kleinen Eiern. »Ein bisschen zu üppig, oder?«, stellt sie fest. »Hat mir dieser Tage eine Klientin vorbeigebracht. Sie ist Floristin. Ist nicht mein Stil. Aber ein großer Dank, und darüber freue ich mich.«
    Dann schaut sie auf die Uhr und sorgt mit einem internen Anruf dafür, dass keine Telefonate mehr zu ihr gelangen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. In den Aussagen von Nora Kolberg – die hier in ihren eigenen Worten wiedergegeben werden – spielen nicht nur ihre Familienerfahrungen eine große Rolle, sondern auch Einstellungen zu Politik und Religion.
    [239] Der Vater war noch im Krieg
    Ich bin nur zur Hälfte, von Mutters Seite, ein Kriegsenkel. Meine Eltern hatten einen Altersunterschied von 13 Jahren. Mein Vater wurde noch im Ersten Weltkrieg geboren. Während des Zweiten Weltkriegs war er Offizier, er hat eine Kompanie geführt. Er war kein SS-Mann. Meine Anfragen bei einem Wehrmachtsarchiv ergaben: Russlandfeldzug ab 1943, viermal verwundet. Aus Familienerzählungen weiß ich, dass er seinen jüngeren Bruder an die Front holte, der dann dort gefallen ist. Es müssen sehr unterschiedliche Charaktere gewesen sein: der Bruder freundlich und aufgeschlossen, mein Vater still und ungesellig. Er hat nur deshalb den Krieg überlebt, weil er im Unterschied zu seinen Kameraden noch rechtzeitig aus dem abgeschossenen Panzer herausgekommen ist und ihn jemand mit Blaubeeren versorgt hat. Wir wuchsen deshalb mit der Vorstellung auf, Blaubeeren seien besondere Heilungskräfte zu eigen.
    Unser Vater hat niemals gesagt, er hätte nichts von den Massenmorden an den Juden gewusst. Aber seine Ausstrahlung machte deutlich: Er wollte nicht danach gefragt werden. Daran haben wir uns gehalten. Einen gebrochenen Mann fragt man nicht. Als ich jung war, habe ich mir vorgestellt, dass er nur an den Nachwirkungen des Krieges litt. Erst seit wenigen Jahren glaube ich, dass es auch Scham gewesen sein könnte, weshalb er den Glauben an sich selbst und den Glauben ans Leben verloren hatte. Über einen Nazihintergrund ist nichts bekannt. Ich habe nie antisemitische Aussagen von ihm gehört. Allerdings hat er immer kommentiert und beachtet, wenn jemand fremdländisch war, angeblich ohne Wertung. Dass darin doch eine Wertung steckt, fiel mir erst als Erwachsene auf.
    Nach der Wiederbewaffnung der BRD wurde er Angehöriger der Bundeswehr. Er litt immer wieder an Depressionen und galt deshalb als lebensuntüchtig. Typisch für meinen Vater ist, dass er enge Beziehungen scheute. Er hatte keine Freunde. Mit [240] Mitte Fünfzig ging er in den Ruhestand, und als er zehn Jahre später starb, waren nicht einmal Kollegen von der Bundeswehr bei der Trauerfeier.
    Auch Mutter hatte keine echten Freundinnen. Es existierten nur Fernkontakte zu alten Klassenkameradinnen. Meine Mutter war die Vertraute ihrer eigenen Mutter gewesen. Als diese dann dement wurde, nahm Mutter sie zu sich. Aus einem ähnlichen Grund habe ich auch meine Mutter zu uns ins Haus geholt: Ich dachte, auch sie käme mit dem Leben nicht mehr allein zurecht. Da habe ich mich aber geirrt. Sie ist einfach nur das, was sie immer schon war, nur eben im Alter viel ausgeprägter: eigensinnig, selbstgerecht und unbeirrbar. Dass auch sie viele Geschichten immer wiederholt, ist kein Zeichen von Vergesslichkeit, sondern dient ihrer seelischen Stabilisierung.
    Meine Mutter gehört der ›Deckergeneration‹ an, wie ich sie nenne. Das sind die Jahrgänge, die später die Nazis und vor allem ihre Mitläufer gedeckt haben, nachdem die Nazis sie vorher herangezüchtet hatten. Meine Mutter war 15 Jahre alt bei Kriegsende. Als mein Bruder und ich in der Schule immer wieder die NS-Zeit durchnahmen, war das natürlich auch Thema mit unserer Mutter. Wir haben darüber viel gestritten. Ich sagte: ›Es gab in Deutschland Widerstandsgruppen. Man hätte sich also auch anders verhalten können als Vater oder Deine Eltern.‹ Sie hielt dagegen: ›Die konnten nicht aus ihrer Haut raus. Wir müssen gnädig und vorsichtig mit ihnen umgehen.‹ Sie war die Gnädige. Ich war die Gnadenlose.
    Vorurteile gegenüber Polen und Russen
    Man merkt meiner Mutter bis heute die

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