Kriegsenkel
jeden Abend geheult. In meiner Familie gab es keine Vorbilder hinsichtlich weiblicher Identität.
Mutter war von Beruf Erzieherin und arbeitete in der Familienfürsorge. Im Unterschied zu ihrem Bruder durfte sie nicht studieren. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mit dem wissenschaftlichen Denken zurechtgekommen wäre. Ihr Weltbild war geschlossen. Sie hatte sich ihre Sicht der Dinge selber gezimmert. Damals entstand wohl auch das Aschenputtel-Syndrom. Es ist eben eine typisch weibliche Überlebensbiografie. Das Muster zieht sich durch ihr ganzes Dasein. Ihre rigiden Sichtweisen dienen ihr als Korsett, denn sie ist eigentlich zutiefst verunsichert. Mein Mann hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass sie es nicht aushält, wenn jemand, der zum ersten Mal von ihrem schweren Schicksal hört, ihr gegenüber Mitgefühl zeigt. Dann kommt von ihrer Seite sofort eine lustige Anekdote – oder sie doziert. Sie hat einen Erklärzwang. Stets muss sie sich und dem ganzen Umfeld erklären, wie die Welt funktioniert.
Sie braucht ein schlüssiges Weltbild, sie hält offene Systeme nicht aus. Ambivalenzen werden von ihr ausgeblendet. Sie interessiert nicht, wie ich meinen Beruf ausübe. Nein, sie weiß es ohnehin besser. Nur muss ich zugeben: Als junger Mensch war ich genauso. Ich wusste auch immer alles besser, und alle mussten sich meine hundertprozentigen Gewissheiten anhören. Als Abiturientin muss ich ein Kotzbrocken gewesen sein, ganz schrecklich, heute tut mir vieles so leid. Zum Glück hatte ich Freunde, die mich auslachten, wenn ich unreflektierte Weisheiten bar jeder wissenschaftlichen Grundlage von mir gab. Ich war schnell demaskiert, aber liebevoll demaskiert.
[244] Auch heute noch wird mir von der Mutter die Welt erklärt. An meiner Sicht ist sie nicht im Geringsten interessiert. Wenn ich ihr sagen will, warum ich etwas anders sehe, komme ich nicht weit. Sie redet über mich hinweg. Sie erträgt keine Irritation, sie hält mir Vorträge über Erbkrankheiten, und sie ist der festen Überzeugung, meine Arbeit bestünde darin, diese ›armen Frauen‹ zu einer Abtreibung zu überreden.
Ähnlichkeiten mit der eigenen Mutter
Etwas ist mir aufgefallen: Wie meine Mutter bediene auch ich mich bestimmter Verhaltensstrategien, die mir eine gewisse Lebenstüchtigkeit ermöglichen. Mit dem Abtrennen und Ausblenden von Gefühlen, manchmal sogar ganzer Lebensbereiche, habe ich eigentlich einen ganz ähnlichen ›Webfehler‹ wie meine Mutter. Ich nehme bestimmte Dinge gefühlsmäßig nicht mehr wahr, wenn sie mich überfordern. Das geschieht aber nicht bewusst. Es ist wie ein Reflex. Ich glaube, es handelt sich um einen Schutzmechanismus, wenn ich emotional unter Stress gerate. Das heißt umgekehrt auch, meine Macke hilft mir, leistungsfähig zu bleiben.
Eine tiefere Ursache für dieses Muster ist sicher, dass ich mich nie von meiner Mutter verstanden gefühlt habe, geschweige denn, mich mit ihr identifizieren konnte. Sie lebte und lebt nicht in meiner Zeit, nicht mit meinen Werten. Sie ist zu Hause in Vorstellungen, die für mich Welten entfernt sind, und sie hat nie den Anschluss an meine Erfahrungswelt gefunden. Ich glaube sogar, sie hat ihn auch nie gewollt. Das folgt ihrer inneren Überzeugung, dass nichts, was heute ist, besser sein kann als das, was gestern war. Oft war mir die Weltfremdheit meiner Eltern einfach nur peinlich. Als ich das erkannte, habe ich mich bewusst emotional abgenabelt. Das hat mich oberflächlich gesehen seelisch unabhängig gemacht, ohne große Angst und [245] manchmal kühl gegenüber anderen Menschen. Aber das hält nur so lange, wie nicht an meinem inneren Gerüst gerüttelt wird.
Ich pflege meine Kontakte mit Menschen kaum, auch wenn ich sie sehr schätze. Nicht selten verfolgt mich das Gefühl, dass ich eine innere Lücke habe, dass mir etwas fehlt. Da besuche ich zum Beispiel mit einer Freundin eine äußerst anregende Tagung oder wir machen einen Kurzurlaub. Aber wenn die Zeit vorbei ist, melde ich mich nicht mehr. Egal, wie schön die gemeinsamen Erlebnisse waren – wenn der Kontakt zu Ende ist, dann ›vergesse‹ ich ihn. Dadurch habe ich viele Menschen vergrault. Die Freunde, die mir geblieben sind, sind diejenigen, die mir das nicht übel nehmen und sich immer wieder von sich aus melden. Ich habe das stets als schlechte Eigenschaft gesehen, als Treulosigkeit: aus den Augen, aus dem Sinn. Ich trage in mir nicht das Bedürfnis, Menschen, mit denen ich schöne Erlebnisse
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