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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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teilte, anzurufen, damit wir sie gemeinsam ›nachschmecken‹.
    Dennoch ist meine Fähigkeit, mich auf andere Menschen einzustellen, gut entwickelt. Das heißt, ich kann im Gespräch gut für mein Gegenüber sorgen, aber manchmal habe ich Schwierigkeiten, einen schönen, anregenden Austausch auf ganzer Länge wirklich zu genießen, denn er strengt mich an. Mein Mann beklagt sich, so lange er mich kennt, darüber, dass ich mich zurückziehe, dass ich aus dem Kontakt gehe. Das spürt er mehr als andere Menschen, und er lässt mich damit nicht in Ruhe. Er möchte schon lange, dass ich mich mit mir selbst auseinandersetze, und ich dachte, ich weiß nicht, was das soll. Aber kürzlich hat er es nicht mehr ausgehalten, und es gab einen Riesenkrach. Er hat Recht. Deshalb habe mich jetzt zu einer Therapie entschlossen.
    Ich wollte immer ein Kind, weil ich wusste, da steckt ein Wunder drin, und so ist es. Jeden Tag bin ich dankbar für meine Tochter. Meine Muttergefühle sind paradoxerweise sehr gut entwickelt. Auch beruflich, in den Beratungsgesprächen, hilft [246] mir diese mütterliche Seite. Aber auch meine depressiven Anteile helfen mir, Verständnis für Menschen zu haben, die glauben, nur im Schatten zu leben, denn seit meiner Jugend kenne auch ich dieses Gefühl: Ich lebe am Leben vorbei. Als ich jung war, fiel ich während der Semesterferien regelmäßig in ein Loch. Ich war phlegmatisch und faul – das sind hässliche Adjektive für eine depressive Gemütsverfassung, aber anders konnte ich das damals nicht sehen.
    Des lieben Gottes Lieblingskind
    Zu meiner Jugend möchte ich noch einige Dinge nachtragen. Ab meinem 12. Lebensjahr bewegte ich mich in Cliquen. Wann immer ich konnte, war ich mit dem Fahrrad unterwegs. Später habe ich mich drei sehr unterschiedlichen Gruppen angeschlossen: dem rechten Spielmannszug im Dorf, wo der Zapfenstreich und preußische Märsche eingeübt wurden, dann einem Kabarettkurs in der Schule, dem nur Linke angehörten, und außerdem ging ich zu den Treffen der katholischen Gemeindejugend in der benachbarten Kleinstadt. Ich hielt die drei Säulen meiner Jugendkultur streng säuberlich getrennt; in keiner Gruppe wusste man etwas über meine Mitgliedschaft in den anderen Gruppen.
    Mit fünf Jahren habe ich angefangen, ein religiöses Leben zu führen. Meine Gottesvorstellung war eine Frau aus Wolken, und ich staunte sehr, als ich erfuhr, dass andere Menschen an einen alten Mann auf einem Thron glauben. Ich dachte, die Leute spinnen doch. Ich war mir meiner Sache mit der Wolkengöttin sehr sicher. Meine Mutter hat in Glaubensfragen nie ein dogmatisches Bild entworfen, und das ist mir zugute gekommen. Mein Glaube hat sich ganz natürlich entwickelt. Mit sechs Jahren kam ich dahinter, dass es Kindergottesdienste gibt und war ziemlich empört, dass mir das zu Hause niemand gesagt [247] hatte. Jedenfalls bin ich dann allein dorthin gegangen. Meine Vorstellung war, ich bin des lieben Gottes Lieblingskind – perfekt, oder? Ich habe nie Ältere gesucht, damit sie mir bestätigen, dass ich an das Richtige glaube. Als Jugendliche hatte ich das große Bedürfnis nach Menschen, mit denen ich über Glaubensfragen reden konnte. In der Kirche habe ich interessante und für mich wichtige Leute kennen gelernt, auch meinen Mann. Auf Grund meines Glaubens hatte ich nie das Gefühl, ich hätte keinen Boden unter den Füßen. Das ist eine Heimat, mit der ich etwas anfangen kann. Das war und ist mein großes Glück. Meine Mutter hat nicht ›alles falsch‹ gemacht.
    Kein Kontakt mehr zu den Eltern
    Abgrenzungen von den Eltern können, wie die Berichte von Nora Kolberg und Ulrich Schrader zeigen, sehr unterschiedlich vor sich gehen. Die Fähigkeit, sich abzusetzen, wächst Hand in Hand mit einem Prozess der Identitätsklärung. Mir ist völlig klar, dass das Erkennen unbewältigter Kriegs- und Schulderfahrungen in der Familie nicht ausreicht, um die Frage »Wie bin ich der geworden, der ich bin?«, zu beantworten. Familienidentitäten sind äußerst komplex. »Monokausale Verbindungen gibt es nicht, sondern wirksam ist ein ganzes Netz«, betont die Traumaexpertin und Psychotherapeutin Luise Reddemann. »Wenn man allerdings starke Komponenten wie Folgen des Kriegs und der NS-Zeit total ausblendet, dann kann das gravierende Folgen haben. Andererseits: In Familien, in denen viel darüber geredet wurde, können die Kinder genauso belastet sein.« Dafür ist die Geschichte von Nora Kolberg ein gutes Beispiel. Um

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