Kriegsenkel
eine Bestellung aufzugeben. »Mutter glaubte, die Welt ist schlecht und die Menschen sind böse. Sie kam mir immer hilflos vor. Seit ich denken kann, sah ich meine Aufgabe darin, sie zu retten.« Auch habe die Mutter ihr als Tochter viele Schuldgefühle vermittelt und sie damit unter Druck gesetzt. Gleichzeitig nahm die Mutter durch kaum merkbare subtile Manipulationen durchaus Einfluss auf das Familiengeschehen, eine Art unsichtbare Macht, die allerdings Tina kaum je zugute kam, sondern sie eher zu Anpassung und Unterordnung trieb. Tina Großschmitt sieht inzwischen auch ihren Vater als »schwach und ängstlich«. Im Grunde, sagt sie, sei er ein Versager, einer, der mit seinem Leben nicht zurechtkommt, ein Verlierer. Heute leben ihre Eltern die Hälfte des Jahres in einem Balkanland. »Dort haben sie sich eine heile dörfliche Welt aufgebaut. Ihr Ansehen gründet sich auf den höheren Wert der deutschen Rente – dort gehören sie zu den besser gestellten Leuten«, meint die Tochter. Zu Hause, fügt sie hinzu, hätte sich der Vater zunehmend mit allen Menschen angelegt. Er habe in jeder Gesellschaft Streit angefangen. Ganz früher, betont sie, seien ihre Eltern sehr gesellig gewesen; als Kind sei sie deshalb von Gleichaltrigen beneidet worden.
Ihr Vater, 1939 geboren, ist ein Flüchtlingskind aus dem Sudetenland. Dessen Vater war Mitglied der SA. Er soll seine beiden Kinder, wie Tina erfuhr, furchtbar geschlagen haben. Ihre Mutter stammt aus dem Ruhrgebiet und kam während der Evakuierung in Sachsen zur Welt. 1944 kehrte deren Mutter mit [251] ihren Kindern in die Heimatstadt zurück. Die Luftangriffe auf das Ruhrgebiet gingen weiter. Nachts bombardierten die Engländer, am Tag die Amerikaner – eine ständige Bedrohung auch für diejenigen, die nicht in ummittelbarer Nähe der Hauptangriffsziele lebten. Dann war der Krieg zu Ende und das Hungern begann. Tinas Großvater stahl, wie damals üblich, Kohlen und tauschte sie gegen Mehl ein. Man ernährte sich recht und schlecht aus dem Gärtchen. »Meine Oma kann bis heute keine Mohrrüben mehr sehen«, erzählt Tina, die sich viele Berichte über die damalige Zeit angehört hat. Daher weiß sie auch, dass im Frühjahr 1945 in eben diesem Gärtchen Hitlers »Mein Kampf« und die Wehrmachtsuniform des Großvaters verbrannt wurden.
Zeitsprung: 1970 wird Tina Großschmitt geboren, und schon bereitet sie ihrer Mutter, die um keinen Preis auffallen will, Schwierigkeiten. Baby Tina hat ein unübersehbares Muttermal auf dem Kopf. In den ersten zwei Lebensjahren, bis ihr dichtes Haar gewachsen ist, wird ihr stets ein Mützchen aufgesetzt, »wegen der Leute«. Tina Großschmitt erzählt mir, sie sei nicht gestillt worden, was durchaus dem damaligen Zeitgeist entsprach. Es wurde propagiert, Trockenmilch sei gesünder als Muttermilch.
Als Säuglinge dressiert wurden
Etwas anderes muss man sich aus jener Zeit ins Bewusstsein rufen: Noch in den siebziger Jahren gehörte es zum Credo der modernen Medizin, dass einer Mutter nach der Entbindung vor allem Erholung zu gönnen sei. Ruhe sollte sie haben – auch Ruhe vor ihrem Kind. Das begann bereits während der Entbindung. Viele Mütter erlebten den Moment der Geburt nicht bewusst, weil man sie unter starke Medikamente gesetzt hatte. Die Distanz zum Kind setzte sich auf der Wöchnerinnenstation fort. Das Neugeborene durfte Mama nur zur Essenszeit besu [252] chen. Nahrung erhielt es nicht dann, wenn es Hunger hatte und schrie, sondern gefüttert wurde nach einem strengen Plan, der dem Krankenhausrhythmus angepasst war. Das wurde von fast allen Beteiligten als normal empfunden. Ruhe, Hygiene und medizinische Kontrolle hatten absolute Priorität. Natürlich gab es auch Mütter, die sich dem widersetzten, aber sie blieben eine Ausnahme. Junge, unerfahrene Frauen beugten sich in der Regel der ärztlichen Autorität, egal, wie sehr sie sich nach ihrem Kind sehnten.
Dann setzte langsam das Nachdenken darüber ein – im Westen Deutschlands eher als im Osten –, dass die Nähe zwischen Mutter und Neugeborenem womöglich einem natürlichen Bedürfnis entspringen könnte. Den meisten Geburtsmedizinern war die Vorstellung einer gemeinsamen Unterbringung von Mutter und Kind so fremd, dass sie sich dafür ein englisches Wort ausliehen, »rooming in«. Heute sind Mutter-und-Kind-Stationen Standard in jedem Krankenhaus. Niemand würde mehr zu bestreiten wagen, wie wichtig es für eine stabile Beziehung ist, dass die Mutter ihr Kind kurz nach
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