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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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an unterschiedlichen Orten in Böhmen aufgewachsen und hatten sich erst in der neuen Heimat, [44] in der Nähe von Bamberg kennen gelernt. Ihre Kindheit war ruhig und beschaulich gewesen. In Böhmen hatte es keinen Krieg gegeben. Das böse Erwachen kam erst, als der Krieg vorbei war und die dort lebenden Deutschen von den Tschechen vertrieben wurden. Im Wohnzimmer von Roberts Eltern hingen keine Bilder von der alten Heimat; sie lagen in einer Schublade. Man schaute nicht zurück, sondern arbeitete hart, man gönnte sich nichts und hoffte, der Sohn werde es einmal besser haben. Er war 1959 zur Welt gekommen und blieb ihr einziges Kind.
    Die »Baby-Boomer« nennt man seine Generation heute, handelt es sich doch um die stärksten Jahrgänge nach Kriegsende. Einzelkinder hatten damals einen schlechten Ruf. Einzelkinder, so hieß es, seien verwöhnt und müssten immer im Mittelpunkt stehen; sie könnten nicht teilen und seien häufig Spielverderber. Robert hätte als Kind gern Schwestern und Brüder gehabt, aber seine Mutter ließ ihn wissen, er sei eine »schwere Geburt« gewesen und daher komme für sie ein weiteres Kind nicht in Frage. Als dann ihr einziger Sohn später kinderlos blieb, waren ihre Klagen unüberhörbar, bis Robert ihr eines Tages klipp und klar sagte, er wolle von dem Thema nichts mehr hören. Inzwischen, sagt er, habe sie quasi einen Enkel adoptiert, und zwar das Kind seiner Freundin, mit der er seit acht Jahren zusammen ist. Heute lebt der Fünfzigjährige in einer Wohngemeinschaft, der noch drei weitere Erwachsene angehören. »Ich brauche nun mal den Alltag mit Geschwistern«, erklärt er dazu. Mit seiner Lebensgefährtin und deren 15-jähriger Tochter lebt er unter einem Dach. Sie wohnt Parterre, er im Obergeschoss. Dem jungen Mädchen ist er ein väterlicher Freund. Sein Leben scheint privat wie beruflich maßgeschneidert zu sein.
    [45] Kapitulation kurz vor dem Examen
    Noch etwas anderes muss man über den Rechtsanwalt Robert Bilak wissen: Es gab eine Phase, in der er unter massiven Lernstörungen litt. Es war kurz vor dem ersten Examen. Er saß täglich acht Stunden am Schreibtisch, aber er konnte sich nicht konzentrieren. »Mag sein«, sagt er, »ich hätte mich doch noch mit einem unmenschlichen Kraftakt zum Examen durchquälen können. Aber ich tat es nicht.« Er gab auf. Er sagte alle Verpflichtungen ab und entfernte den Lernplan von der Wand. Dann machte er drei Wochen Urlaub. Als er wieder klar denken konnte, ging er daran, seinen bisherigen Ausbildungsweg zu analysieren. Das Ergebnis fiel schockierend aus. »Ich war 25 Jahre alt und hatte bislang alles nur nach Plan abgehakt, weil man es eben so tut. Tatsächlich hatte ich nicht eine Vorlesung besucht, die mich wirklich interessierte.«
    Wie nicht anders zu erwarten, waren seine Eltern zutiefst beunruhigt, als er ihnen mitteilte, er werde jetzt sein Jurastudium unterbrechen. »Aber das konnte ich ihnen nicht ersparen. Ich sagte: ›Ihr müsst nichts mehr für mich bezahlen. Mein Geld verdiene ich ab jetzt selbst‹.« In den folgenden Jahren war Robert Bilak wieder ein Suchender. Doch diesmal baute er nur auf sich. Er begann, sich selbst zu erforschen: Wo lagen seine Begabungen, seine Interessen? Wie wollte er arbeiten? Wie wollte er leben? Rückblickend stellt er fest: »Wenn man sich dafür Zeit nimmt, kann man sich tatsächlich selbst entdecken. Im Nachhinein bin ich froh über meinen massiven Widerstand gegen das Lernen.«
    Er versuchte herauszufinden, auf welchem gesellschaftlichen Gebiet sein Engagement am größten war. Schließlich entdeckte er das Thema »Soziale Gerechtigkeit« und fing an, sich für die damit zusammenhängende Rechtsgeschichte und die Rechtsfragen zu interessieren. Nach zwei Jahren nahm er sein Studium wieder auf. Erstmals hatte er ein klares Berufsziel: Anwalt [46] für Arbeitsrecht. Nun bereitete ihm das Lernen überhaupt keine Probleme mehr. »Es funktionierte wie im Durchmarsch«, berichtet er, »Ich war hoch motiviert, und ich habe dann ein gutes Examen hingelegt«.
    Aus der Schilderung seines Werdegangs wird deutlich: Er ist ein nachdenklicher, ernsthafter Mann, der Konventionen meidet, die sein Wohlbefinden beeinträchtigen. Dazu zählt er die Vater-Mutter-Kind-Eigenheim-Konstruktion. Seine Eltern, sagt er, hätten genau dies für ein stabiles Lebensgefühl gebraucht, aber auch viele seiner Anwaltskollegen hätten sich dafür entschieden, für den Preis von 60 oder gar 80 Stunden Arbeit in der Woche.

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