Kriegsklingen (First Law - Band 1)
schon oft gesagt, dass gerade sein Unterkiefer besonders ideal geformt war, was natürlich nicht heißen sollte, dass an seinem übrigen Körper irgendetwas auszusetzen gewesen wäre. Er drehte sich nach links und dann nach rechts, um dieses wunderbare Kinn genau in Augenschein zu nehmen. Nicht zu kantig, nicht zu grob, aber auch nicht zu zart, nicht weibisch oder schwach. Ein markantes Männerkinn, kein Zweifel, leicht gespalten, was auf Kraft und Durchsetzungsvermögen schließen ließ, das aber auch empfindsam und nachdenklich wirkte. Hatte es jemals ein derart perfektes Kinn gegeben? Vielleicht hatte einmal ein König oder einer der Helden aus alter Zeit ein fast ebenso schönes Kinn gehabt. Es war ein edles Kinn, das stand fest, wie es niemals ein gemeiner Mann hätte haben können.
Jezal vermutete, dass er es von der mütterlichen Seite seiner Familie geerbt hatte. Sein Vater war mit einem eher fliehenden Kinn gesegnet. Seine Brüder auch, wenn er einmal darüber nachdachte. Sie verdienten ein wenig Mitleid dafür, dass das gute Aussehen in der Familie allein auf ihn übergegangen war.
»Und auch das meiste Talent«, murmelte er zufrieden in sich hinein. Zögernd wandte er sich vom Spiegel ab und ging in seinen Wohnraum, während er sich ein Hemd über den Kopf zog und es vorn zuknöpfte. Heute musste er so umwerfend aussehen wie möglich. Der Gedanke machte ihn ein wenig kribblig, ein Gefühl, das vom Bauch aus die Luftröhre emporkroch und sich in seiner Kehle breit machte.
Inzwischen würden die Tore schon geöffnet sein. Ein ständiger Menschenstrom würde sich in den Agriont ergießen und die Plätze der Tribünen auf dem Marschallsplatz füllen. Tausende von Menschen. Jeder von Bedeutung, und noch viel mehr ohne. Sie sammelten sich bereits, schon ganz aufgeregt, rufend, scherzend, wartend … auf ihn. Jezal hustete und versuchte, den Gedanken wieder aus seinem Kopf zu verdrängen. Er hatte ihn schon die halbe Nacht wach gehalten.
Er ging zum Tisch, auf dem das Frühstückstablett stand. Zerstreut nahm er mit den Fingerspitzen ein Würstchen, biss ein Stück ab und kaute ohne Genuss darauf herum. Mit gerümpfter Nase warf er es wieder auf den Teller. Er hatte heute Morgen keinen Appetit. Gerade wischte er sich die Finger an dem Handtuch ab, als er entdeckte, dass etwas vor der Tür auf dem Boden lag, ein gefaltetes Stück Papier. Er beugte sich hinunter, nahm es in die Hand und klappte es auf. Dort stand eine einzige Zeile, in sauberer, sorgfältiger Schrift:
Treffen Sie mich heute Nacht an der Statue von
Harod dem Großen in der Nähe des ›Vier Ecken‹ –
A.
»Scheiße«, murmelte er ungläubig und las die Zeile wieder und wieder. Er faltete das Blatt zusammen und sah sich unruhig im Raum um. Es gab nur eine A., die Jezal einfiel. Er hatte sie in den letzten Tagen in seinem Kopf ganz weit nach hinten verbannt und jeden freien Augenblick mit dem Training verbracht. Aber diese Notiz holte all das wieder zurück, verdammt.
»Scheiße!« Er strich den Zettel glatt und las die Zeile noch einmal. Treffen Sie mich heute Nacht? Er konnte nicht verhehlen, dass diese Bitte einen Hauch von Befriedigung in ihm auslöste, der sich allmählich in ein deutlich spürbares, glückseliges Glühen verwandelte. Sein Mund verzog sich zu einem geistlosen Lächeln. Ein geheimes Treffen im Dunkeln? Bei dieser Vorstellung überkam ihn eine angenehme Gänsehaut. Aber Geheimnisse haben es an sich, dass sie irgendwann ans Licht kommen, und was würde passieren, wenn ihr Bruder es herausfände? Mit diesem Gedanken kehrte die Nervosität zurück. Er nahm das Blatt in beide Hände und wollte es in der Mitte durchreißen, aber im letzten Moment faltete er es stattdessen wieder zusammen und steckte es in seine Tasche.
Als Jezal durch den Tunnel schritt, konnte er das Publikum bereits hören. Es war ein seltsames, widerhallendes Gemurmel, das direkt aus den Steinen zu dringen schien. Er hatte es natürlich schon einmal gehört, als er letztes Jahr beim Turnier als Zuschauer dabei gewesen war, aber damals hatte es nicht dazu geführt, dass ihm der Schweiß ausbrach und sich ihm der Magen umdrehte. Ein Teil des Publikums zu sein ist etwas ganz anderes, als wenn man selbst auf die Bühne muss.
Unwillkürlich verlangsamte er seine Schritte, dann blieb er stehen, schloss die Augen und lehnte sich gegen die Mauer, während der Lärm der Menge in seinen Ohren brauste, und er versuchte, tief durchzuatmen und sich zu
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