Kriminalgeschichte des Christentums Band 01 - Die Fruehzeit
ewiger Wahn, so etwas wie die wahren oder doch wahrscheinlicheren Grundsätze der Geschichtswissenschaft entdeckt zu haben oder wenigstens ihnen nahe gekommen zu sein? 45
Man könnte entgegnen, dies ständige Umschreiben, Neuschreiben, Anderssehen der Geschichte resultiere nur aus ihrem eignen Wissenschafts- und Wahrheitsanspruch, aus dem Streben gerade nach mehr Objektivität, größerer Genauigkeit, zumal verbesserte Arbeitsbedingungen, ein funktionstüchtigeres Instrumentarium, veränderte Forschungstechniken und Interpretationsverfahren, tieferdringende Sonden, bessere Verifikationsmöglichkeiten, neue Theorie- und Methodenkonzeptionen, begrenztere oder erweiterte oder exakter konstruierte Problemstellungen hinzukommen, zu schweigen vom Auffinden neuer Quellen.
Doch in Wirklichkeit zeigt die Geschichtsschreibung, daß der Schwerpunkt ihrer Interessen sich gewöhnlich erst verlagert, wenn die Zeitgeschichte ihre Interessen verlagert, ihre Ideologien, ihre Begriffe; daß die Geschichtsschreibung unter einem gewissen Zwang außerszientifischer Maßgaben, des metawissenschaftlichen Umfelds, der jeweils herrschenden Mächte, der politischen Praxis steht, daß sie dem Einfluß staatlicher Willensbestimmung unterliegt, daß sie den Dispositionen und Intentionen von Diktatoren folgt und somit – wie besonders der vorwiegend von amerikanischen Historikern (gegen den Positivismus) entwickelte Präsentismus lehrt – bloß eine Projektion von Gegenwartsinteressen auf die Vergangenheit ist; gerade das 20. Jahrhundert zeigt dies rundum auf der Welt. Und im 19. Jahrhundert sowie in den vorhergehenden Epochen ist es mutatis mutandis kaum anders gewesen. Was helfen die schönsten Theorien über Objektivität der Geschichtswissenschaft, wenn die Realität dieser Geschichtsschreibung ihre eignen Theorien widerlegt! Das erinnert fast an den Gegensatz zwischen der Predigt des Christentums und seiner Praxis.
Auch bei Methodenkontroversen geht es – wie beim sogenannten Methodenstreit Ende des 19. Jahrhunderts – viel weniger um sachliche als um politische Auseinandersetzungen, gesellschaftliche Umwertungsprozesse. Was scheinbar um der Wissenschaft, Forschung, theoretischen Besinnung willen geschieht, ist in Wirklichkeit mehr durch vor- und außerwissenschaftliche Realitäten bedingt, durch Tagespolitik, den sozialen Lebensbereich, Subjektivität, Egoismen. 46
Nun kommt zum allgemeinen Objektivitätsproblem noch ein spezielleres, heikleres Phänomen, das damit zusammenhängt. Die Schwierigkeiten resultieren dabei weniger aus der Tatsache, daß die Quellen oft lückenhaft, die Datierungen unsicher sind – zu schweigen von beträchtlichen Differenzen ganzer Wissenschaftszweige, etwa zwischen Archäologie und Linguistik oder Geschichte. Vielmehr geht es hier, da Geschichte meistens Texte betrifft, da alle Geschichtsschreibung Sprache ist, um die Sprache des Historikers.
Noch Louis Halphen (1946) genügte es, »sich in einer gewissen Weise von Dokumenten tragen zu lassen, die man eins nach dem anderen gelesen hat, wie sie sich uns anbieten, um die Kette der Fakten sich fast automatisch herstellen zu sehen«. Aber leider sind »historiographische« Tatsachen noch keine »historischen« Tatsachen, sind Begriffe nicht die Wirklichkeit, nicht faits bruts. Leider gibt es »keinen scharfen Bruch zwischen Geschichte und Mythologie ... keine scharfe Grenzlinie zwischen ›Fakten‹ und Theorien« (Sir Isaiah Berlin), sind beide vielmehr »so sehr miteinander verwoben, daß man vergeblich versuchen würde, sie streng und genau zu trennen« (Aron). Leider auch können historische Tatsachen sehr verschieden gesehen und bewertet, können sie einseitig beleuchtet oder verdunkelt, entstellt, verdreht, verfälscht werden, können sie an sich schon vielschichtig, selbst bereits »wissenschaftliche Konstruktionen« sein (Bobinska), »eine Konstruktion des Geschichtswissenschaftlers« (Schaff). Kurz, geschichtliches Leben ist nicht adäquat durch Reproduktion zu erfassen, sondern nur annäherungsweise, jede Geschichtsschreibung ist ein untrennbares Geflecht von Fakten, Hypothesen, Theorien. »Jede Tatsache ist schon Theorie«, wie bereits Goethe pointiert behauptet. 47
Niemals sind wir, sofern Geschichte vergangen ist, mit einem geschichtlichen Ereignis unmittelbar, niemals mit der nackten Tatsache als solcher konfrontiert, mit Rankes »wie es eigentlich gewesen«; was übrigens bescheidner klingt, als es gemeint war. Der konservative Historiker,
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