Kriminalgeschichte des Christentums Band 05 - Das 9 und 10 Jahrhundert
das Recht auf Gesamtherrschaft und drohte Gegnern mit dem Tod. Und nun brechen zwischen Lothar I. (gest. 855), Ludwig II. dem Deutschen (gest. 876) und Karl II. dem Kahlen (gest. 877) blutige Kriege aus. Alle drei sind Brüder, sind Christen, Katholiken. Alle sind voller Mißtrauen. Alle voller Neid. Alle leisten Falscheide. Alle operieren »mit Schenkungen, Versprechungen, Drohungen« (Tellenbach). »Jeder lauert nur auf ein Zeichen von Schwäche bei den andern, um über seiner Brüder oder nach deren Tod seiner Neffen Erbteil herzufallen« (Fried). Dazwischen rüsten sie, schwören einander »Frieden«, »Freundschaft«, bekunden »Sehnsucht und Liebe« – rund hundert Königstreffen gibt es bis Ende des Jahrhunderts.
Vieles erinnert an die Merowinger-Ära, die Gemetzel nach Chlodwigs Tod, die Fehden seiner Söhne, Enkel (IV 3., 5., 8. Kap.). Auch die extreme Verrohung ähnelt jener grauenhaften Zeit, wobei im christlichen Byzanz die Dinge sich sehr analog entwickeln. Pierre Riché findet unter den Karolingern einen kompletten Katalog aller Arten physischer Gewaltanwendung, findet jeden Fall detailliert geschildert und zwecks Abbuße strafrechtlich genau taxiert, u.a. für »abgeschnittene Ohren mit oder ohne Taubheit als Folge, abgerissene Lider, herausgerissene Augen, ganz oder teilweise abgeschnittene Nasen, ausgerissene Zungen, eingeschlagene Zähne, ausgeraufte Bärte, zerquetschte Finger, abgehackte Hände und Füße, abgeschnittene Hoden.« 5
Man war christlich geworden.
Gelehrte Konformisten wollen das alles aus dem Geist der Zeit heraus verstehen. Ganz recht. Der Geist der Zeit aber war christlich. Oder war er noch nicht christlich genug? Das sagen doch immer die Apologeten. Also wann war er christlich, katholisch genug? Etwa im 20. Jahrhundert, als die katholischen Kroaten genau das gleiche machten, massenhaft?! Und, so der Würzburger Jurist und Historiker Ferenc Majoros, »mit unbeschreiblicher Bestialität ...«
Man war christlich geworden. Und die »Ordnungshüter« vergalten solche Untaten – nach dem altbewährten Bibelprinzip: Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn (3. Mos. 24,20; 5. Mos. 19,21) – nicht minder brutal. Das Strafregister reicht von der Verstümmelung, der Blendung etwa, Kastration, bis zum lebendig Verbrennen oder Ertränken. Und protestierten auch vereinzelte Kleriker, im allgemeinen, schreibt Riché, verhängten »selbst Geistliche gegen ihresgleichen schreckliche Strafen« – nicht gegen Kirchenfürsten selbstverständlich.
Auch zwischen den diversen Adelsgruppen ruht der Positionskampf keinen Augenblick. Wie bei den Merowingern ist auch jetzt Verrat, wechseln die politischen Konstellationen, an der Tagesordnung; leistet man Treueschwüre, bricht sie, schwört erneut. Alles kreist um Besitz-, um Herrschaftsakkumulation, um Macht- und Ruhmsucht. All diese potentes, priores, primores, maiores, optimates, nobiles, viri optimi und wie die sogenannten Vornehmen (d.s.: die zuerst, die »vor« den andern nehmen, ihnen viel wegnehmen) damals heißen, wollen stets mehr, immer noch reicher, noch »vornehmer« werden, wollen immer noch größere Lehen, wobei ihnen jedes Unrecht recht ist, wenn sie auch der nackten Gewalt, der Fehde, dem Krieg gern die Tücke, jederlei Hinterfotzigkeit vorziehen. Und das alles unter christlichen, unter katholischen Fürsten, leiblichen Brüdern!
Die Könige sind von unersättlicher Gier, gewiß. Doch sie denken dabei nicht an sich allein. Das Volk, die »Masse« zwar spielt noch lange keine Rolle – die völlig abhängigen Arbeitssklaven, die servi, noch seinerzeit »Sklaven im antiken Sinn« (Werner), ganz beiseite. Dieser Stand scheint damals sogar noch zugenommen zu haben, vor allem auch durch ungezählte Flüchtlinge, die sich als Lohnarbeiter verdingten, von ihren Grundherren aber zu Leibeigenen gemacht oder einfach einem Magnaten geschenkt worden sind. Und diese ärmste und weitaus größte Schicht, in der es seinerzeit verschiedene Grade der Freiheitsbeschränkung, der Unfreiheit, gibt, die jedoch von den allermeisten Rechten der »Freien«, des Adels ausgeschlossen bleibt, diese Schicht, die ja immerhin alles, restlos alles trägt, kommt in den Quellen so gut wie nicht vor. Es ist eine seltene Ausnahme, dringt aus einem Text des englischen Abtes Ælfric von Eynsham um die Jahrtausendwende einmal der Jammer eines Bauern: »Ach! Ach! Eine große Plage ist es, denn ich bin nicht frei.«
Zwar klagt selbst Karl I. darüber, »daß
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