Kriminalgeschichte des Christentums Band 06 - Das 11 und 12 Jahrhundert
Herrscher. Graf Balduin, der Bruder Gottfrieds von Bouillon, hier auf eigene Faust mit einer Art Sonderkommando erschienen, zögert nicht. Er wird vom Fürsten Thoros zum Erben eingesetzt und verkürzt sich mutmaßlich die Wartezeit, indem er den Regenten umbringen läßt, so oder so, was freilich nicht nachweisbar ist. Edessa, Kreuzungspunkt wichtiger Fernstraßen, wurde jedenfalls Grafschaft und jahrzehntelang eine hervorragende Bastion der Kreuzfahrer, zumal Balduin alles tat, um sein Territorium auszuweiten, wobei er auch eine armenische Prinzessin heiratet sowie einen Bürgeraufstand brutal niederschlägt. 50
Im späten Oktober 1097 stand man noch mit 300000 Mann – nach Albert von Aachen, dem man gern großes erzählerisches Talent attestiert – vor dem fast uneinnehmbaren Antiochia am Orontes, vor jener glänzenden »Stadt Gottes«., in der man Jesu Anhänger zum erstenmal Christen genannt (Apg. 11, 26). Ebenso politisch wie militärisch und wirtschaftlich bedeutend, größer und luxuriöser als alle abendländischen Städte, mit vierhundert Türmen bewehrt und meist von Christen bewohnt, berannten die Wallfahrer die Festung mehr als sieben Monate »unter der Führung Christi« und hatten ungeheuere Verluste. Ja, die Seelen vieler unserer christlichen Mitbrüder, meldet Graf Stephan von Chartres voller Gottvertrauen in den fernen Westen, wurden »zu den Freuden des Paradieses geschickt«. Die Überlebenden dagegen hatten es schwerer. Ein verheerender Winter folgte, den »kleinen Leuten« schimmelten die Kleider vom Leib, viele verhungerten, die Pferde starben. Nur die Kopfjagd auf Gefangene entschädigte die »Helden des Herrn« etwas für ihre Mißerfolge im Feld. Der apostolische Bevollmächtigte, der Bischof von Puy, »der so menschliche Adhemar de Monteil«, wie ihn noch heute ein Katholik wohlmeinend zubenennt, ließ für jeden gebrachten Türkenkopf eine Belohnung von 12 Denaren zahlen und dann die Häupter auf langen Stangen vor der Stadtmauer aufpflanzen. Ein den Rechtgläubigen ja oft vergönnter, doch immer wieder erbaulicher Anblick ...
Erst durch Bestechung und Verrat – die Leistung Bohemunds – konnten die »Helden Christi« am 2./3. Juni 1098 mit dem Schlachtschrei »Gott will es!« im buchstäblich letzten Augenblick die Stadt erobern. Unterstützt von ihren ansässigen Glaubensgenossen, metzelten sie sämtliche Türken nieder; fraglos ein »gottgefälliges Werk«. »Alle Plätze waren derart überhäuft mit Leichen, daß keiner wegen des Gestanks dort bleiben konnte«, und griffen sich dann deren Frauen und Töchter, sogar viele wehrlose Christinnen, und die ärmsten boten sich für ein Stück Brot selber an. »Gott will es!« 51
Schon wenige Tage später aber wurden die Belagerer Belagerte, schloß sie das herbeieilende Entlastungsheer des Sultans Kerboga von Mosul ein. Nun schwammen die »Pilger« zwar im geraubten Gold, hatten aber nichts zu essen. Die Ritter soffen Pferdeblut, die Armen lebten von Baumblättern und Aas, manche kochten ausgedörrte Kamel- und Ochsenhäute weich, auch Kannibalismus gab es stellenweise, kurz man litt alle möglichen Drangsale »um des Namen Christi willen«. Vorsichtige, wie Graf Stephan von Blois, setzten sich unrühmlich ab. Peter der Einsiedler versuchte es gleichfalls, doch ihn holte man zurück.
In höchster Not aber putschte ein herrliches Mirakel die Mordlust der müden Krieger wieder auf: der provenzalische Priester Peter Barthélemy, dem nicht der beste Ruf vorauseilte, fand nach langem Suchen unter visionärer Assistenz des hl. Andreas – er erschien viermal – und im Beisein des Raimund von Toulouse eine der kostbarsten Reliquien, die hl. Lanze, mit der ein römischer Legionär einst Jesu Seite am Kreuz durchbohrte; wenn's denn wahr ist. Die Heilige Lanze lag just dort, so eine arabische Quelle, wo man sie »vergraben und alle Spuren beseitigt« hatte – und dabei lag doch, ein weiteres, eher größeres Wunder noch, das »Original« bereits in Konstantinopel, im byzantinischen Kronschatz! Nach dreitägigem Fasten und Beten, gestärkt durch Leib und Blut des Herrn, machten die Eingeschlossenen, angeführt vom Priester Raimund mit der Hl. Lanze und mit anderen Priestern und Mönchen, die alle Heiligen anriefen (welche dann auch, auf weißen Pferden, mitritten), einen glorreichen Ausfall am 28. Juni 1098 und löschten in großer Glaubensinbrunst das Leben von etwa 100000 Moslems aus, auch das der Frauen, Kinder, Säuglinge in ihrem Lager
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