Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
den Straßen, nachdem sie ihre Dörfer aus Angst vor den Russen verlassen hatten. Die Krise ließ die alliierten Befehlshaber darüber nachdenken, weitere Soldaten in der nordwestlichen Krim-Ebene einzusetzen, schon allein um die tatarische Bevölkerung vor den Russen zu schützen und gegen sie zu mobilisieren. 19
Erst im April aber gingen die Alliierten wirklich daran, ernsthaft ihre Militärstrategie auf der Krim zu überdenken. Am 18. April trafen sich Palmerston, Napoleon, Prinz Albert, Clarendon, Lord Panmure (der neue britische Kriegsminister), Vaillant, Burgoyne und Graf Walewski (Drouyns Nachfolger im französischen Außenministerium) zu einem Kriegsrat in Windsor Castle. Palmerston und Napoleon sprachen sich entschieden für einen Wechsel der Strategie aus: Man sollte die Bombardierung von Sewastopol einschränken, um sich auf die Eroberung der Krim als Ganzes zu konzentrieren, die nach Ansicht beider Männer den Beginn eines größeren Kriegs gegen Russland markierte. Der neue Plan hatte den Vorteil, dass man die Krimtataren auf alliierter Seite einsetzen würde. Vor allem stellte er eine Rückkehr zu den Gefechten in offenem Gelände dar, in denen sich die alliierten Armeen den Russen an der Alma und bei Inkerman technisch überlegen gezeigt hatten. Ebendas Geschick und die Schusskraft ihrer Infanterie verschafften den Alliierten den größten Vorteil gegenüber den Russen, einen Vorteil, der jedoch in der Belagerungskriegführung von Sewastopol unerheblich war. Denn was Militärtechnik und Artillerie anging, waren die Russen den Briten und Franzosen zumindest ebenbürtig.
Am stärksten befürwortete Napoleon einen Strategiewechsel. Obwohl die Besetzung von Sewastopol eines seiner Hauptziele darstellte, war er überzeugt, dass die Stadt erst fallen würde, wenn sie ganz und gar eingeschlossen war – dann freilich kampflos. Statt Sewastopol aus dem Süden zu beschießen, sollten die Alliierten eine Armee in Aluschta, 70 Kilometer östlich, landen und in Richtung Simferopol marschieren lassen, durch das der größte Teil des russischen Militärnachschubs befördert wurde. Die Briten stimmten den groben Umrissen von Napoleons Strategie zu, konnten ihn allerdings im Rahmen der Absprache von seiner kühnen Idee abbringen, den Befehl über die militärischen Operationen auf der Krim persönlich zu übernehmen. Der »Plan des Kaisers« (wie man die Aluschta-Expedition in französischen Kreisen nennen sollte) war eine von drei Optionen für eine Ausweichattacke auf das Innere der Krim; die anderen waren eine Offensive bei Sewastopol stationierter alliierter Verbände gegen Bachtschisserai sowie die Landung einer Streitmacht bei Jewpatorija, die über die Ebene nach Simferopol marschieren würde. Die beiden Kriegsminister unterzeichneten ein Memorandum über den vereinbarten Plan, das Panmure im Namen der britischen Regierung an Oberbefehlshaber Raglan schickte. Panmure beauftragte Raglan, zwischen den drei Optionen zu wählen, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass er sich für eine von ihnen entscheiden müsse. Die Schützengräben vor Sewastopol sollten 60 000 Mann (30 000 Türken und 30 000 Franzosen) überlassen werden, deren neue Aufgabe es sei, ein Sperrfeuer aufrechtzuerhalten, um die Russen an einem Ausbruch aus der Stadt zu hindern. Die frühere Absicht, zur Offensive überzugehen, wurde fallengelassen.
Raglan stand dem neuen Plan skeptisch gegenüber. Er wollte die Beschießung fortsetzen, die seiner Ansicht nach sehr bald zu einem Durchbruch führen würde, und er glaubte, eine Feldoffensive werde zu viele Soldaten erfordern, um die alliierten Positionen vor Sewastopol weiterhin verteidigen zu können. In einem Akt offener Missachtung, wenn nicht gar der Rebellion gegenüber seinen politischen Vorgesetzten berief Raglan auf der Krim einen Kriegsrat ein, bei dem er den alliierten Befehlshabern Canrobert und Omer Pascha mitteilte, Panmures Memorandum enthalte nur einen »Vorschlag«, den er (Raglan) nach Belieben akzeptieren oder ablehnen könne. Raglan verschleppte die Umsetzung des neuen Planes, indem er verschiedene Vorwände anführte, um keine Männer von der Belagerung abziehen zu müssen. Schließlich ließ Canrobert, der die Offensive befürwortete und mehrere Male angeboten hatte, die französischen Truppen Raglans Befehl zu unterstellen, seiner Frustration freien Lauf. »Der von Eurer Majestät ausgearbeitete Feldzugsplan«, teilte Canrobert dem Kaiser mit, »ist durch die mangelnde
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