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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Fotoausstellungen und Reproduktionen in der illustrierten Presse brachten sie der Öffentlichkeit das Leid der Soldaten und die menschlichen Kosten des Krieges unmittelbar nahe. Diese bahnbrechenden Bilder unterschieden sich stark von Fentons verfeinerten Darstellungen. Beispielsweise sitzen die verwundeten Infanteristen in Cundalls und Howletts Drei Krim-Invaliden (1855) auf einem Krankenhausbett und zeigen ihre verstümmelten Gliedmaßen. Ihre Mienen lassen keine Emotion und die Bilder keine Romantik oder Sentimentalität erkennen. Es geht nur um den schwarz auf weiß dokumentierten Nachweis der Auswirkungen von eisernen Geschossen und von Erfrierungen auf den Körper. In ihren Notizen im königlichen Archiv identifizierten Cundall und Howlett die Männer als William Young vom 23. Regiment, verwundet im Redan am 18. Juni 1855, Henry Burland vom 34., der beide Beine durch Erfrierungen in den Schützengräben vor Sewastopol verloren hatte, und John Connery vom 49., dessen linkes Bein ebenfalls nach Erfrierungen in den Schützengräben amputiert worden war. 18
    Bis weit in die 1870er Jahre hinein lieferten die Erinnerungen an den Krimkrieg ein lohnendes Motiv für britische Künstler. Das bekannteste dieser Krim-Bilder war Appell nach einer Schlacht (1874) von Elizabeth Thompson (Lady Butler), das bei seiner Ausstellung in der Royal Academy großes Aufsehen erregte. So viele Menschen erschienen, um es sich anzusehen, dass man zu seinem Schutz eigens einen Polizisten abstellte. Thompson, die für ihre früheren Gemälde über Militärmotive bereits bekannt war, hatte den Appell (wie man das Bild allgemein nannte) unmittelbar nach den Cardwell-Reformen konzipiert, als Armeeangelegenheiten im öffentlichen Leben einen hohen Stellenwert hatten. Aus detaillierten Skizzen von Krim-Veteranen schuf sie eine imposante Komposition, in der sich die überlebenden Grenadiere, verwundet, frierend und zutiefst erschöpft, nach einer Schlacht versammeln, um sich von ihrem berittenen Offizier zählen zu lassen. Das Gemälde unterschied sich radikal von herkömmlichen Kriegsbildern, die sich auf die glorreichen Taten mutiger Offiziere konzentrierten: Abgesehen von dem berittenen Offizier, wurde die zwei Meter hohe Leinwand völlig von der Not der gemeinen Soldaten beherrscht. Die Heldentaten waren vergessen, und der Betrachter schaute ins Gesicht des Krieges. Nach der Ausstellung in der Royal Academy unternahm man mit dem Appell eine landesweite Rundreise und zog enorme Zuschauerzahlen an. In Newcastle trugen Männer Reklametafeln mit der prägnanten Aufschrift » Der Appell kommt !« . In Liverpool sahen sich innerhalb von drei Wochen 20 000 Menschen das Bild an – eine gewaltige Resonanz für die damalige Zeit. Viele waren tief bewegt von dem Werk, das das Herz der Nation offensichtlich angerührt hatte. Die Königin erwarb den Appell von dem ursprünglichen Käufer, einem Industriellen aus Manchester, doch eine Druckerei behielt das Recht, eine Volksausgabe von Stichen zu reproduzieren. Thompson selbst wurde über Nacht zur Nationalheldin. Man verkaufte eine Viertelmillion Cartes-de-visite-Fotos der Künstlerin an die Öffentlichkeit, die sie auf eine Stufe mit Florence Nightingale stellte. 19
    * * *
    Was sagt man wohl in England,
    Wenn die Geschichte wird erzählt
    Von Ruhmestaten auf Almas Höhen
    Wo unsre Helden sich gequält?
    Von Russland, stolz zur Mittagszeit,
    Verzagt vor Anbruch der Nacht?
    Sagen wird man: »’S war das alte England !«
    Sagen wird man: »’S war edel vollbracht !«
    Reverend J. S. B. Monsell in
    The Girls’ Reading Book (1875) 20
    Der Krimkrieg hinterließ in der englischen nationalen Identität tiefe Spuren. Schulkindern diente er als Beispiel dafür, wie sich England gegen den russischen Bären zur Wehr setzte, um die Freiheit zu verteidigen – es war, wie damals von der Zeitschrift Punch dargestellt, ein eindeutiger Kampf zwischen Recht und Unrecht. Der Gedanke, dass John Bull den Schwachen gegen Tyrannen aller Art zu Hilfe kam, wurde zu einem Teil der grundlegenden britischen Selbstanschauung. Viele der emotionalen Kräfte, die Großbritannien in den Krimkrieg getrieben hatten, wurden erneut wirksam, als es 1914 zur Verteidigung des »kleinen Belgien « und 1939 zu der Polens gegen Deutschland in den Krieg zog.
    »Recht gegen Unrecht « ( Punch , 8. April 1854)
    Heutzutage sind die Namen Alma, Balaklawa, Inkerman, Sewastopol, Cardigan und Raglan immer noch im Kollektivgedächtnis vorhanden,

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