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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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sich zwischen Westminster und dem Pall Mall Club hin und her bewegte. »Die Zeitungen grölen dauernd nach Einmischung. Sie sind Schinder, und dazu machen sie auch die Regierung.« 33
    Lord Palmerston
    Palmerston war der in diesem Sinne wirklich erste moderne Politiker. Er begriff, dass er die Presse hegen und pflegen und die Öffentlichkeit auf schlichte Weise ansprechen musste, wenn er eine massenhafte politische Anhängerschaft gewinnen wollte. Der Krieg gegen Russland ermöglichte ihm, dieses Ziel zu erreichen. Seine Außenpolitik erschien der britischen Öffentlichkeit als Ausdruck ihres eigenen Nationalcharakters und ihrer allgemeinen Ideale: Sie war protestantisch und freiheitsliebend, dynamisch und abenteuerlich, selbstbewusst und kühn, streitlustig in ihrer Verteidigung des kleinen Mannes, auf stolze Art britisch und verachtungsvoll gegenüber Ausländern, besonders wenn es sich um Vertreter der katholischen und der orthodoxen Religion handelte, die Palmerston mit den schlimmsten Lastern und Exzessen des Kontinents verknüpfte. Die Öffentlichkeit liebte seinen expliziten Einsatz für den liberalen Interventionismus im Ausland, denn dies bestärkte sie in ihrer Ansicht, dass England das großartigste Land der Welt sei und dass es die Aufgabe der Regierung sei, ihre Lebensweise den weniger Glücklichen jenseits der Grenzen nahezubringen.
    Palmerston wurde so populär und die Bürger identifizierten seine Außenpolitik so stark mit der Verteidigung »britischer Werte«, dass jeder, der versuchte, das Abgleiten in den Krieg zu verhindern, mit Schmähungen durch die patriotische Presse rechnen musste. Dies war das Schicksal der Pazifisten und radikalen Freihändler Richard Cobden und John Bright, deren Weigerung, Russland als Gefahr für die britischen Interessen (denen ihrer Meinung nach besser durch den Handel mit Russland gedient gewesen wäre) einzuschätzen, dazu führte, dass die Presse sie als »prorussisch« und folglich »unenglisch« anprangerte. Sogar Prinz Albert, dessen kontinentale Gewohnheiten wenig Sympathie weckten, sah sich plötzlich als Deutscher oder als Russe attackiert (viele schienen nicht zwischen beidem unterscheiden zu können). Die Presse, vornehmlich der Morning Advertiser (die Boulevardzeitung jener Tage), bezichtigte ihn des Verrats, nachdem Gerüchte aufkamen, dass eine Hofintrige im Dezember den Rücktritt Palmerstons verursacht habe. Als Palmerston in die Regierung zurückkehrte, meldete der eher pöbelhafte Teil der Presse ohne Umschweife, Albert sei als Verräter im Tower of London inhaftiert worden, woraufhin sich dort Menschenmengen ansammelten, die einen Blick auf den Prinzen erhaschen wollten. Der Morning Advertiser verlangte sogar seine Hinrichtung und setzte obendrein hinzu: »Es ist besser, dass ein paar Tropfen schuldigen Blutes auf einem Schafott am Tower Hill vergossen werden, als dass ein Land seiner Kriegsgelüste beraubt wird!« Königin Viktoria war so empört, dass sie damit drohte abzudanken. Aberdeen und Russell sprachen im Namen der Königin mit den Herausgebern aller bedeutenden Zeitungen, doch deren Antworten ließen kein Ende der Kampagne erhoffen: Die Herausgeber selbst hatten die Artikel gebilligt und sie in manchen Fällen sogar eigenhändig geschrieben, denn durch solche Texte stiegen die Verkaufszahlen. 34
    In der Volksmeinung hatte der Kampf gegen Russland mit »britischen Prinzipien« zu tun: mit der Verteidigung von Freiheit, Zivilisation und Freihandel. Der Schutz der Türkei vor Russland wurde mit der ritterlichen britischen Tugend verknüpft, für die Hilflosen und Schwachen gegen Tyrannen und Schikaneure einzutreten. Der Hass auf die Russen ließ die Türken in der öffentlichen Einschätzung zu Ausbunden an Tugend werden – eine romantische Anschauung, die ihre Ursprünge im Jahr 1849 hatte, als die Türken den ungarischen und polnischen Freiheitskämpfern Zuflucht vor zaristischer Unterdrückung geboten hatten. Als der turkophile Urquhart Anfang 1854 eine »Vereinigung für den Schutz der Türkei und anderer Länder vor der Teilung« gründete, schlossen sich ihr rasch mehrere Tausend Radikale an.
    Die Verteidigung der muslimischen Türken gegen die christlichen Russen war ein bedeutendes Hindernis für anglikanische Konservative wie Aberdeen und Gladstone und selbst für die Königin, deren religiöse Sympathien sie feindlich gegenüber den Türken stimmten (insgeheim wünschte sie sich die Gründung eines »griechischen Reiches«, das die

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