Krishna-Zyklus 10 - Die Kontinente-Macher
Züge, dass Ihr unter Eurer harten Schale feinfühliger und rücksichtsvoller seid als die Männer dieses Landes.«
Borel musste sich ein Grinsen verkneifen. Man hatte ihn in seinem Leben schon mit einer Menge von Ausdrücken bedacht, darunter solche wie Dieb, Schwindler oder schmieriger Mistkerl – aber ›rücksichtsvoll‹ und ›feinfühlig‹ hatte ihn noch keiner genannt. Vielleicht war das ein gutes Beispiel für die Relativität, über die diese langhaarigen Wissenschaftler immer so gern redeten.
»Wohin soll ich dich fahren?« fragte er Zerdai.
»Zur Erde!« hauchte sie und schmiegte den Kopf an seine Schulter. Für einen Moment war er fast versucht, seinen Plan, sie fallenzulassen, zu verwerfen. Doch im letzten Moment kam die resolute Selbstsucht, die den beherrschenden Charakterzug des Abenteurers darstellt, zu seiner Rettung. Er rief sich energisch das Gebot ins Gedächtnis zurück, dass man bei einem hastigen Rückzug möglichst keinen Klotz am Bein haben durfte. Lieb sie und dann lass sie, lautete die Regel, die er immer beherzigt hatte. Und würde sie nicht auch auf jeden Fall glücklicher sein, wenn er sich wieder absetzte, bevor sie die schmerzliche Erfahrung machen würde, dass er alles andere als ein feinfühliger Tugendbold war?
»Ich habe eine Idee!« rief Zerdai und klatschte in die Hände. »Wir fahren zum Turnierplatz vor dem Nordtor der Stadt. Dort findet heute der Kampf zwischen Sir Volhaj und Sir Shusp statt.«
»Ach! Davon habe ich ja noch gar nichts gehört.«
»Sir Shusp hat Sir Volhaj herausgefordert; es geht um irgendeine Dame. Shusp hat bei solchen Duellen bisher schon drei Ritter getötet.«
»Wenn ihr Hüter doch angeblich alles gemeinsam besitzt, so wie bei uns früher auf der Erde die Kommunisten, dann verstehe ich nicht, welchen Grund ein Ritter hat, eifersüchtig zu werden. Könnten sie sie nicht beide gleichzeitig lieben?«
»Das ist nicht üblich. Ein Mädchen sollte sich erst dann einen neuen Liebhaber nehmen, wenn es dem alten den Laufpass gegeben hat. Tut es das nicht, so wird das als Verstoß gegen die guten Sitten aufgefasst, zumindest aber als geschmacklos.«
Sie passierten das Nordtor und folgten der Landstraße. »Wohin führt diese Straße?« fragte Borel.
»Wisst Ihr das wirklich nicht? Nach Koloft und Novorecife.«
Der Turnierplatz lag gleich hinter den letzten Häusern, wo die Felder begannen, zur Rechten der Straße. Er erinnerte Borel an eine nordamerikanische High-School-Football-Arena: dieselben keinen Holztribünen und Zelte an den Enden, wo bei einem Footballplatz die Tormale waren. Der mittlere Abschnitt einer der beiden Tribünen war zu einem überdachten Stand ausgebaut, in dem die hohen Amts- und Würdenträger des Ordens saßen. Fliegende Händler mit Bauchläden schoben sich durch die Menge; einer rief:
»Blumen! Blumen! Kauft eine Blume mit der Farbe eures Favoriten! Rot für Volhaj, weiß für Shusp. Blumen! Blumen …«
Die Sitzreihen waren schon voll gepackt mit Zuschauern, die, der vorherrschenden Farbe der Blumen an ihren Hüten nach zu urteilen, in der Mehrzahl Shusp zugeneigt zu sein schienen. Borel überhörte Zerdais Vorschlag, irgendeinen Gemeinen von seinem Platz zu verscheuchen und diesen selbst zu besetzen, und führte sie statt dessen an das eine Ende des Feldes, wo sich die Zuspätgekommenen drängelten. Er ärgerte sich, dass er zu spät gekommen war, um noch ein paar Wetten abzuschließen. Dies hier versprach weit aufregender zu werden als die öden Pferdewetten auf der Erde, und wenn man seinen Einsatz geschickt platzierte und verteilte, ging man in jedem Fall mit mehr Geld nach Hause, als man mitgebracht hatte, ganz egal, wer von den beiden gewann.
Ein Trompetensignal erscholl. Aus dem Zelt nicht weit von Borel trabte ein Reiter in einer maurenartigen Rüstung hervor, mit einem stachelbewehrten Helm mit Nasenschutz und einem kurzen Kettenrock; sein Aya war ebenfalls an den empfindlichen Stellen gepanzert. Der Qararu ritt vor bis zur Mitte des Feldes und blieb dort stehen. Anhand der roten Verzierungen an seinem Sattel und seiner Rüstung identifizierte Borel ihn als Sir Volhaj. Volhaj als dem Herausgeforderten gehörten seine Sympathien – Borel, der Gewalt zutiefst verabscheute, pflegte sich immer auf die Seite des Angegriffenen zu schlagen. Warum musste dieser andere Depp, dieser Shusp, wegen einem bisschen gekränkter Eitelkeit gleich einen solchen Aufstand machen? Solche Sachen konnte man als erwachsener Mensch
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