Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
lag da, ohne zu antworten. Sein Atem ging langsam und gleichmäßig, ohne die Hilfe einer Maschine.
Sie musste unwillkürlich an vorgestern denken, als er nach der Operation aus dem Gleichgewicht geraten war. Sie hatte die Furcht in seinen Augen gesehen, das dämmernde Entsetzen, als er den rhythmischen Schlag seines neuen Herzens gespürt hatte. Die Erkenntnis, dass jemand gestorben war, um ihm eine neue Chance zum Leben zu geben.
Nicht jemand, dachte sie. Francis.
Was würde Angel sagen, wenn er die Wahrheit wüsste?
Sie runzelte die Stirn. Sie kannte Angel seit Jahren nicht mehr - hatte ihn vielleicht niemals richtig gekannt -, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er vor Wut einen Tobsuchtsanfall bekommen würde, wenn er erfuhr, was sie getan hatte. Was sie genehmigt hatte.
Er würde nicht wissen, wie man sich über so etwas grämte. Fairerweise musste sie zugeben, dass das niemand konnte. Er würde von Bedauern und Hass auf sich selbst geplagt sein. Er würde sich fragen, ob Francis vor der Operation wirklich tot gewesen war oder ob Madelaine und ihr Team das Unverzeihliche getan hatten.
Sie wusste, dass sie jeden davon überzeugen konnte, dass Angel die Wahrheit nicht erfahren dürfte - dass es für seine Genesung hinderlich wäre, dass die Identität des Spenders nur nach eingehender Diskussion mit dem Berater der trauernden Hinterbliebenen preisgegeben werden dürfe, dass es unterm Strich am besten sei, Angel im Dunkeln zu lassen. Es war üblich, die Identität des Spenders geheim zu halten.
Aber hier ging es um weit mehr als um die übliche Verfahrensweise des Krankenhauses in solchen Fällen.
Sie hatte Angst davor, ihm die Wahrheit zu sagen, fürchtete sich vor dem Blick, der in seine Augen treten würde, fürchtete sich vor den Worten, die er zu ihr sagen würde. Worte, die einmal gesagt, niemals zurückgenommen werden konnten.
Denn sie kannte auch eine andere Wahrheit. Sie wusste nicht, wann sie es entdeckt hatte, wann es Teil von ihr geworden war, doch irgendwann in den vergangenen Wochen war Angel ihr wieder unter die Haut gegangen. Es war sein Elan -dieser gewaltige, übergroße Elan, der die Welt dazu herausforderte, es mit ihm aufzunehmen. Als junges Mädchen hatte sie sich darin verliebt, aber sie stellte sogar jetzt, als Erwachsene, fest, dass da etwas fast Magisches in der Stärke seiner Persönlichkeit war, seinem trotzigen Willen, sich seinen eigenen Weg zu bahnen.
So ganz anders als ihr eigener verwässerter, nachgiebiger Wille.
Als sie auf ihn blickte, sah sie sogar jetzt, wo er an der Schwelle des Todes lag, eine Sternschnuppe von Mann.
Die Tür hinter ihr öffnete sich. Sie drehte sich in dem Moment um, als Chris in den Raum trat. Seine Augen verengten sich oberhalb der Maske zu einem Lächeln. »Wie geht es unserem Patienten?«
Madelaine lächelte. »Besser als den meisten. Er reagiert gut auf die Medikamente.«
Chris zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er nahm sich eine Sekunde, um die Akte durchzublättern, schob sie dann zurück in die Hülle, die am Fußende des Bettes angebracht war. Er schaute Madelaine an. »Was werden Sie tun?«
Sie wusste genau, was er meinte, und wich ihm nicht aus. »Ich werde ihn nicht weiter als Kardiologin betreuen. Nach der... Entscheidung zu spenden, habe ich keine andere Wahl.«
»Sie könnten die Angelegenheit der Ethikkommission vortragen - es ist eine Art Grauzone.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde Marcus Sarandon um Übernahme bitten. Er wird tolle Arbeit leisten.«
Chris warf einen Blick auf Angel. »Was werden Sie ihm sagen?«
Sie seufzte. »Ich weiß es nicht.«
Sie war unerträglich, wie alle Beerdigungen.
Die Leichenhalle war ein palastartiges weißes Ziegelgebäude mit Säulen und sorgfältig gepflegtem Rasen und jungen Bäumen, die eines Tages zu hundertjährigen Eichen altern würden und dem Neubau einen Hauch altmodischer Eleganz geben würden. Es war wie so viele andere seiner Art ein Gebäude, mit Bedacht ersonnen, um eine weit verbreitete amerikanische Fiktion zu beschwören - das perfekte Familienheim, ein weitläufiges Südstaatenherrenhaus, das in eine andere Zeit zurücklauschte, als noch eine Generation zur nächsten wurde und wieder zur nächsten, als der Kreislauf des Lebens akzeptiert und verstanden wurde. Man konnte sich sogar einen kleinen, sehr gepflegten Familienfriedhof an seiner Rückseite vorstellen, der von einem weiß gestrichenen Holzzaun umgeben war.
Dies war natürlich der
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