Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
ihr nach seinem Tode alles hinterlassen. Die letzte besitzergreifende Geste eines kranken Mannes. Er hatte sie mit dem Haus und dem Geld belastet, das alles repräsentierte, was sie an ihrer Kindheit verachtet hatte.
Sie schritt die Ziegelstufen hoch, ging den Weg hinunter, um den toten Rosengarten herum, der einst der Stolz und die ganze Freude ihrer Mutter gewesen war, trat dann auf den braunen Teppich des Hinterhofs.
Der Rasen führte zu einem niedrigen Ufer am Meer, wo die See sanfte Spritzer über die grauen Felsen spuckte. Madelaines hohe Absätze versanken in dem abgestorbenen Gras, als sie zum Ende des knarrenden alten Kais ging und sich niederließ.
Lina setzte sich neben sie, die nackten Beine baumelten über den Rand.
So blieben sie eine Ewigkeit sitzen, starrten beide auf die Wolken, die sich über der Baumreihe am gegenüberliegenden Ufer ballten. Der Regen wurde stärker und prasselte auf die Oberfläche des Wassers nieder.
»Hierher ist mein Dad mit mir gegangen, nachdem meine Mom gestorben war«, sagte Madelaine schließlich.
»Das ist dein Haus, nicht wahr? Das Haus, in dem du aufgewachsen bist?«
Madelaine erschauerte und zog ihren Mantel enger um sich. »Ja, das ist es.«
»An dem Fenster da oben sind Gitter.«
Der Zwang zu lügen, zu vertuschen, kam schnell. Sie verdrängte ihn und nickte. »Das war mein Schlafzimmer.«
»Er hat dich eingesperrt?«
Madelaine lachte kurz auf. »Siehst du? Du hast nicht die schlechteste Mutter in der Weltgeschichte.«
Lina schwieg und wandte sich ab, um auf die Meerenge zu starren. Nach einer Weile sagte sie leise: »Ich greife ... immer wieder nach dem Telefon, um ihn anzurufen, und dann muss ich mich daran hindern.«
Madelaine schlang einen Arm um Linas Schultern und zog sie an sich. Regen fiel um sie herab, peitschte über ihre Gesichter und prasselte auf ihre Kleidung. »Ich rede jeden Tag mit ihm, gerade so, als sei er noch bei mir. Manchmal glaube ich, er will mir antworten ...«
Lina nickte. »Ich will, dass es etwas bedeutet, aber ...« Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Er fehlt mir einfach so sehr.«
Madelaine starrte das Profil ihrer Tochter an, das so blass und zerbrechlich wirkte. Sie litt mit Lina und wollte ihr über den Schmerz hinweghelfen, ihr etwas geben, an das sie glauben konnte, etwas, das ihren Schmerz ein wenig erträglicher machen würde.
Angel.
Das Wort kam ihr so plötzlich in den Sinn, dass sie sich aufrichtete und sich umschaute. Sie glaubte verrückterweise, Francis' Stimme gehört zu haben. Dann wurde ihr klar, dass es nur ihr Unterbewusstsein gewesen war, und sie ließ wieder die Schultern hängen und starrte auf die See, die unter ihnen schäumte.
Der Gedanke kam wieder. Gib ihr einen Vater. Das war es, was Francis gesagt haben würde.
Sie wandte sich Lina zu, starrte sie so lange und eindringlich an, bis Lina sich schließlich zu ihr drehte.
»Was ist, Mom?«
Madelaine befeuchtete die Lippen und schmeckte Regenwasser. Sie spürte ein Flattern in der Brust und wusste, dass es Angst war. Das Einfachste wäre jetzt, sich abzuwenden, zu lachen und zu sagen, es sei nichts. Aber seit Francis' Tod hatte sie begriffen, wie zerbrechlich Leben war, dass falsche Entscheidungen zuweilen dauerhafte Folgen haben konnten. Dass man die Worte bedauerte, die man nicht gesagt hatte ...
Es war an der Zeit für sie, nicht mehr der Fußabtreter zu sein, zu dem ihr Vater sie erzogen hatte. Sie musste endlich kämpfen, für sich, für Lina, für sie alle. Vielleicht würde Lina mit Angel davonlaufen, vielleicht würde Angel ihrer Tochter das Herz brechen... Es gab unendlich viele Möglichkeiten und alles konnte falsch laufen.
Aber sie hatte jahrelang nichts unternommen und die Dinge waren trotzdem verkehrt gelaufen.
Sie versuchte zu überlegen, wie sie es am besten sagen sollte, doch am Ende fand sie keine vorsichtige Formulierung, keine Umschreibung, keine Einleitung für etwas wie dies. Es gab nur die Wahrheit und sie wusste, dass diese Lina wie ein Schlag treffen würde. »Ich habe mit deinem Vater gesprochen.« »Ja, richtig.«
Madelaine schluckte schwer. »Das habe ich.«
Lina hob sehr langsam den Kopf und schaute ihre Mutter benommen an.
Madelaine wartete darauf, dass Lina etwas sagte, aber das Schweigen zwischen ihnen vertiefte sich. Schließlich sagte Madelaine: »Er ist im Augenblick sehr krank und kann dich nicht sehen, aber bald ...«
»Du meinst, er will mich nicht sehen.« Lina wich zurück und sprang auf.
Weitere Kostenlose Bücher