Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
»Ja, ich wette, ihm geht's hundeelend, seit er erfahren hat, dass er eine Tochter hat. Ich glaube dir nicht«, zischte sie und schüttelte den Kopf.
Madelaine rappelte sich auf und griff nach ihrer Tochter. »Lina ...«
Lina schlug ihre Hand beiseite. »Fass mich nicht an. Ich kann dir nicht glauben, Mom. Ich sitze hier draußen im Regen, nach Francis' Beerdigung, und du erzählst mir - endlich -, dass du mit meinem Vater gesprochen hast...« Sie lachte, aber das Lachen war schrill und hysterisch. »Heute also - beute - erfahre ich, dass ich einen Vater habe, dem ich aber völlig egal bin und der mich nicht sehen will. Perfekter Zeitpunkt, Mom.«
»Baby, bitte...«
Linas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich kann nicht glauben, dass du dachtest, dass ich mich dadurch besser fühlen würde.«
»Lina, bitte...«
»Tu mir nur einen Gefallen, Mom. Versuche nicht mehr, mich aufzuheitern, ja?« Sie warf Madelaine einen letzten, verletzten Blick zu, wirbelte herum und rannte über die Planken des Docks davon.
Madelaine stand da und schaute ihr hilflos nach. Niedergeschlagen bückte sie sich und ergriff ihre Handtasche, ging dann langsam über den Kai, den Hügel hoch und zu dem Wagen.
Als sie einstieg, sah sie Lina an, die an das Fenster gepresst saß, die Arme rebellisch verschränkt, die Augen fest zugekniffen. Sie dachte über ein Dutzend Dinge nach, die sie gerade jetzt vielleicht sagen könnte, aber sie alle erschienen ihr banal und dumm angesichts ihrer offensichtlichen Fehleinschätzung. Schließlich sagte sie das Einzige, was Sinn machte. »Es tut mir Leid, Lina. Ich denke, ich hätte dir das nicht sagen sollen. Ich habe nicht klar denken können...« Ihre Worte schwanden in dem Schweigen und blieben unbeantwortet. Ihr fiel nichts ein, was sie hätte hinzufügen können, und so ließ sie den Motor an.
Schweigend fuhren sie heim.
Es tut mir Leid, hatte sie gesagt.
Nach diesem Wochenende hätte sie wissen sollen, wie bedeutungslos diese wenigen Worte waren, wie sie in einen Ozean von Schmerz fielen und nicht einmal ein Kräuseln im Wasser hinterließen.
Angel erwachte langsam, lauschte dem Klang ihrer Stimme. Es dauerte eine Sekunde, bis er klar sehen konnte. Sie las ihm vor - Anne Rice' Geschichte des Körperdiebes, wenn er sich nicht irrte.
Er öffnete weit seine Augen. »Eine ziemlich makabre Wahl«, sagte er und grinste schwach. »Ich hoffe, du willst mir nicht auf diese Art beibringen, dass ich künftig Blut trinken muss.«
Er wusste, dass sie unter der Maske lächelte. »Tut mir Leid, aber das ist das, was ich im Augenblick lese. Ich dachte, du würdest gerne etwas hören ...« Sie zuckte die Achseln und stieß ein kleines, schrilles Lachen aus. »Ich hatte nicht über das Thema nachgedacht. Ist ziemlich krank. Da hast du Recht. Ich dachte nur, dass du dich vielleicht weniger einsam fühlst, wenn du die Stimme von jemand hörst.«
»Du plapperst, Mad.«
Sie lachte wieder und schloss das Buch. »Das tue ich.«
»Gewöhnlich plapperst du nur, wenn du nervös bist. Was ist passiert - hat das Herz dieser erstaunlichen toten Person aufgehört zu schlagen, während ich schlief?«
»Nein«, sagte sie ruhig und er konnte sehen, dass jeder Funke von Humor aus ihren Augen verschwunden war. Sie schaute ihn nun mit einer aufkommenden Traurigkeit an. »Es ist jetzt dein Herz, Angel.«
Er spürte eine Welle von Bitterkeit in sich. Er dachte an sein Herz, das Herz des Spenders , und er spürte es dort schlagen, in seiner Brust, schlagen und schlagen und schlagen. Er überlegte, und dabei wurde ihm seltsam zumute, ob es weiterschlagen würde, wenn sein Körper gestorben war. Er hatte kurz das verrückte Bild vor Augen, dass er in einem Sarg lag, sein Körper mausetot und leichenblass, aber das Herz klopfte munter weiter. Dieses Ding war jetzt seit drei Tagen in ihm, aber es fühlte sich mit jeder Sekunde fremdartiger an. »Ja, sag das dem toten Burschen. Er glaubte, es sei seins.«
Er hob den Kopf vom Kissen, und das kostete ihn unglaubliche Anstrengung. »Wie konntest du zulassen, dass man das mit mir macht, Mad?«
»Wir haben dein Leben gerettet«, sagte sie leise.
»Sieh mich nicht so an«, zischte er und hasste sie in diesem Augenblick, hasste alles und jeden, von Gott angefangen. »Du hast nicht mein Leben gerettet, du hast mein Sterben verlängert. Sieh mich doch an, um Himmels willen. Ich sehe wie ein verdammter Kürbiskopf auf einer Stange aus - oder hast du nicht bemerkt, dass ich zehn Pfund
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