Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Dunkelheit durch die Straßen der Innenstadt geistern sah.
Die Tür öffnete sich mit einem Klicken und Lina wirbelte wieder herum. Sie war so nervös, dass sie den Kamm fallen ließ. Er fiel klappernd auf den Linoleumboden.
Mom trat in den Raum und Lina fühlte sich so elend, dass sie fast einen Brechreiz bekam. Ihre Mutter sah wie immer so aus, als sei sie gerade aus einer Seite für Kosmetikwerbung getreten - goldbraunes Haar, das in sorgfältig frisierten Locken um ihr Gesicht fiel, wunderschöne haselnussbraune Augen, betont durch ein klein wenig brauner Mascara. Sie trug einen cremefarbenen Kaschmirpullover und einen schwarze Hose, war das Bild von kühler Kultiviertheit und Klasse.
Das war das, was ihr Vater für hübsch hielt.
Lina musterte sich wieder im Spiegel und zuckte zusammen. »Ich kann es nicht, Mom. Ich muss morgen wiederkommen. Ich glaube, ich habe heute Morgen durch das Müsli beim Frühstück eine Lebensmittelvergiftung bekommen.«
»Er wartet auf dich«, erwiderte sie ruhig, während sie hinter sich die Tür schloss.
Lina spürte, dass ihr Herzschlag sich beschleunigte. »Er - er sagt, dass er mich sehen möchte?«
Mom runzelte die Stirn und bewegte sich auf sie zu. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Lina nickte, schüttelte dann den Kopf, versuchte darauf, wieder zu nicken. Doch die Tränen kamen, stiegen ihr in die Augen. »Nein«, flüsterte sie.
Mom streichelte ihre Wange. »Es ist ganz normal, nervös zu sein.«
»Ich bin hässlich.«
»Du siehst toll aus.«
»Ich hätte mir nie von Jeff das Haar schneiden lassen dürfen.« Sie schaute schnell zu ihrer Mutter auf, wartete auf deren Ich hab's dir ja gesagt, doch zum Glück kam das nicht. Schließlich sagte sie: »Meinst du ... du könntest mich so zurechtmachen, dass ich wie du aussehe?«
Mom musterte sie. Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Oh, nein ... du bist viel hübscher als ich.«
»Ja, natürlich«, greinte sie. »Und Bosnien ist ein tolles Urlaubsziel.«
Mom nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem Sessel hinter ihrem Schreibtisch.
Lina setzte sich.
»Heb dein Gesicht hoch«, sagte Mom. Lina gehorchte. Ihre Mutter entfernte mit einer Creme und einem Papiertuch Linas Make-up und legte dann ein neues auf. Etwas Mascara, Rouge und einen Hauch von hellrosa Lippenstift. Anschließend kämmte sie Linas Haar aus dem Gesicht und besprühte es mit irgendetwas.
Lina wollte aufstehen.
»Bleib sitzen«, befahl Mom, während sie zu dem antiken Armoire in der Ecke ihres Büros ging. Sie öffnete die reich verzierte Tür, kramte in den Kleidern, die darin hingen, und nahm einen eisblauen Angorapullover heraus. Sie kehrte zum Schreibtisch zurück und lächelte. »Eigentlich sollte das ein Weihnachtsgeschenk sein.«
Lina starrte den weichen Pullover an und fühlte sich beschämt. Sie wusste, dass sie beim bevorstehenden Weihnachtsfest einen kurzen Blick auf etwas so Feminines geworfen und es dann beiseite gelegt, ihre Mutter für hoffnungslos bescheuert gehalten hätte. Sie schaute ihre Mutter an. »Ist irgendwie cool, Mom. Danke.«
Mom lachte. »Genau das hättest du bei der Bescherung auch gesagt.«
Lina zog lächelnd ihr T-Shirt mit der Bierwerbung von Coors über den Kopf und warf es in eine Ecke. Dann streifte sie den unglaublich weichen Pullover über. Als ihre Mutter mit ihr wieder vor den Spiegel trat, konnte Lina ihre Veränderung fast nicht glauben.
Dieses Mal starrte eine wunderschöne junge Frau sie an. Durch den Pullover wirkten ihre Augen unglaublich blau. Statt wie sonst gespenstisch weiß auszusehen, wirkte sie jetzt blass und irgendwie zerbrechlich, genau wie diese Mädchen in den Calvin-Klein-Anzeigen. Impulsiv drehte sie sich um und schlang ihre Arme um ihre Mutter, hielt sie fest.
Dann wurde ihr bewusst, was sie getan hatte, und sie wich verlegen zurück.
Mom lächelte. »Du solltest wissen, dass er sehr krank ist, dein Vater. Er hat gerade eine Herzoperation hinter sich gebracht und muss sehr vorsichtig sein. In etwa einer Stunde wird er entlassen werden, aber schnell bewegen darf er sich nicht. Ich habe Vorbereitungen getroffen - für den Fall, dass alles gut verläuft -, ihm heute zu helfen, ein Haus zu finden. Das machen wir drei gemeinsam.«
»Klingt irgendwie nach Familie«, sagte Lina. Sie war überrascht von der Sehnsucht, die in ihrer Stimme mitklang.
Mom schaute betroffen drein, dann ein wenig traurig. »Mehr wie neue Freunde.«
Lina nickte. Sie atmete tief ein, reckte die Schultern
Weitere Kostenlose Bücher