Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
glaubt, dass er das nicht will, aber manchmal kann ein Mensch nicht sehen, was unmittelbar vor seinen Augen ist.« Sie lächelte ihre Tochter zaghaft an. »Genau wie du. Ich bin hier. Ich war immer hier und doch siehst du mich nicht.«
»Mom ...«
»Unterbrich mich nicht. Ich war keine gute Mutter für dich, Lina. Das weiß ich. Glaubst du vielleicht, ich wüsste das nicht? Aber das hat nie daran gelegen, dass ich dich nicht liebe.« Sie lächelte weich. »Ich erinnere mich an deine Geburt, daran, wie sie dich auf meinen Bauch gelegt haben. Du warst so klein, so perfekt in jeder Hinsicht, und ich begann zu weinen. Alle glaubten, ich weinte, weil du so schön warst.« Sie streichelte Linas feuchte Wange. »Aber ich weinte, weil ich siebzehn Jahre alt war und solche Angst hatte. Ich wusste, dass ich nie gut genug für dich sein würde.«
»Mom, sag doch nicht...«
»Weil ich Angst hatte, bin ich egoistisch gewesen. Ich habe versucht, dich immer bei mir zu haben, hoffte, dass ich es eines Tages richtig machen würde. Aber ich habe es nicht richtig gemacht. Hätte ich das, würdest du nicht die Schule schwänzen und stehlen und allein in deinem Zimmer hocken und weinen. Du brauchst etwas, das ich dir gerade jetzt nicht geben kann.«
»Ich brauche Francis«, sagte sie mit dünner, zitternder Stimme.
»Wir brauchen ihn beide, Liebes. Und wir werden ihn für den Rest unseres Lebens jeden Tag brauchen. Vielleicht wird der Schmerz eines Tages nachlassen - alle sagen, dass es so sein wird - und ich bete darum, dass es so sein wird. Aber im Augenblick müssen wir unser Leben weiterleben, alles an Glück nehmen, was wir finden können. Wenn es etwas gibt, das ich aus Francis' Tod gelernt habe, dann das, wie schnell alles vorbei sein kann. Ein Anruf mitten in der Nacht und das Leben verändert sich.«
»Ich will mein altes Leben wiederhaben.« Lina lächelte sie mit feuchten Augen an und zuckte die Schultern. »Ich weiß, ich weiß, ich hab's gehasst, als ich es hatte.«
Madelaine wollte Lina in diesem Augenblick in die Arme schließen und sie an sich ziehen, aber sie hatte Angst, dass das die Unterhaltung beenden würde, und sie hatte noch einen so langen Weg vor sich. Meilen, so viele Meilen. Stattdessen fasste sie Lina beim Kinn und lächelte. »Ich möchte ändern, was ich falsch gemacht habe.« Sie atmete lang und tief ein und sammelte sich für ihre nächsten Worte. »Ich möchte dich deinem Vater vorstellen.«
Linas Augen weiteten sich und sie begann, den Kopf zu schütteln. »Noch nicht...«
»Doch. Jetzt.«
»Was wird er tun?«
Da war die Frage, die stechende kleine Furcht, die in ihr nagte und die sie nicht verdrängen konnte. Doch die neue Ehrlichkeit war ein gutes Gefühl, viel besser als all dieses Verstecken und Heucheln, furchtlos und perfekt zu sein. »Ich weiß es nicht.«
»Und wenn er mich nicht sehen will?«
»Dann versuchen wir es morgen wieder und übermorgen und überübermorgen.«
Lina schwieg eine lange Zeit. Dann sagte sie: »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Du bist stärker, als du denkst.«
»Nein.«
Madelaine schaute ihre Tochter an, liebte sie so sehr, dass es schmerzte. Sie wusste, dass Lina das Recht hatte, Angst zu haben, wusste aber auch, dass die Furcht kein Grund war, auszuweichen. Wenn jemand diese Lektion gelernt hatte, dann Madelaine. Sie hatte ihr Leben lang Angst gehabt und was hatte ihr das gebracht? Ein Bett, in dem sie allein schlief, und eine Tochter, die sich ungeliebt fühlte.
»Wenn er dich verletzt, werde ich da sein, Lina.«
»Ich habe Angst.«
»Ich weiß. Die habe ich auch.«
Lina wandte sich ab, starrte auf das riesige Poster von Johnny Depp, das über ihrem Bett hing. Schließlich seufzte sie und sah Madelaine wieder an. »Ich muss es versuchen, nicht wahr?«
Madelaine war plötzlich sehr stolz auf ihre Tochter. »Das tun wir alle. Mehr bleibt uns nicht.«
Angel träumte, er sei wieder auf der Wiese.
Er stand dort, sah sich um, fühlte sich friedlich und zufrieden. Vögel kreisten hoch über ihm, zwitscherten und zirpten und schössen auf das süße grüne Gras hinab. Er konnte seinen Herzschlag hören, dieses gleichmäßige Pochen, dieses Pulsieren und Klopfen in der Brust.
Er wusste, dass Francis kommen würde, bevor er eintraf.
Angel drehte sich ganz langsam um und sah seinen Bruder bei den Bäumen stehen. Francis trug sein ernstes, schwarzes Priestergewand und für einen Sekundenbruchteil erkannte Angel ihn fast nicht. Dann ging
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