Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
er vorwärts gehen sollte.
Es klopfte an der Tür und er spürte eine Welle von Erleichterung. Er durchquerte das winzige Wohnzimmer und riss die Tür auf.
Val stand dort, rauchte eine Zigarette und hielt eine Flasche Tequila in der Hand. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du am Stadtrand wohnst.« Er erschauerte. »Was wirst du als Nächstes tun? Den Rasen mähen oder grillen?«
Angel starrte auf die Flasche, auf die schwappenden goldenen Perlen an den Innenseiten des Glases. Der süße, vertraute Geruch des Rauchs wehte zu ihm, löste ein starkes Verlangen tief in ihm aus.
Sein altes Leben. Hier war es, stand vor ihm, trug Designerjeans und langes Haar und ein Lächeln, in dem nichts außer blankem Zynismus war. Und plötzlich wollte er es wieder, wollte wieder dieser alte störrische Rebell sein, der, der er einmal gewesen war. Er wollte dieses Leben, das nach Zigarettenrauch und billigem Parfüm roch.
Er trat grinsend beiseite. »Valentine. Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?«
»Hab versucht, Schnaps in einer Stadt zu finden, die bei Anbruch der Dämmerung die Bürgersteige hochklappt - und Alkohol nur in Spirituosenhandlungen verkauft.« Er erschauerte dramatisch. »Gott, was für ein archaischer Brauch.«
Angel führte ihn in das dunkle Holzhaus, schaltete auf dem Wege ein paar Lichter ein. Val folgte ihm, seine Stiefelabsätze klapperten auf dem Holzboden.
Val setzte die Flasche mit einem Bumm's auf dem Tisch ab. »Cuervo Gold. Deine Lieblingsmarke.«
Angel sah die Flasche verlangend an. Konnte ein Drink wirklich schaden?
Der Rauch lockte ihn, wirbelte unsichtbar unter seiner Nase, hinterließ seinen Stempel in der Luft.
Val ließ sich auf das dick gepolsterte Sofa sinken, legte einen Arm auf die Rückenlehne. Er strich eine lange Haarsträhne hinter sein Ohr. »Schöne Einrichtung - was hast du gemacht? Bist du in den Familienclub von Ikea eingetreten?«
Angel dachte an sein Hochhaus in Las Vegas - an die strahlend weißen Wände und die schwarzen Ledermöbel, an die Tische aus Glas und Chrom, an die Bar, die in Dutzenden goldender Farbtöne glitzerte, wenn die Lichter eingeschaltet waren. »Madelaine hat das Zeug ausgewählt.«
Eine Augenbraue hob sich ruckartig. »Ah ...«
Angel sah den Zynismus in den Augen seines Freundes, die Unfähigkeit, ein Heim wie dieses zu verstehen oder zu schätzen, oder eine Frau wie Madelaine, und wieder fühlte er sich preisgegeben und verloren. Ein Mann, der nirgendwo hingehörte. Er dachte plötzlich an Lina, daran, wie sie ihn angesehen hatte - als ob er den Mond aufgehängt hätte -, und an die Dinge, die sie ihn gefragt hatte, ohne auch nur ihren Mund aufzumachen.
Sei mein Daddy... ich liebe dich ... sei da ... sei da ... sei da...
Er würde sie nur enttäuschen, wenn er versuchte, ein richtiger Vater zu sein. Was, zum Teufel, wusste er überhaupt darüber, wie es war, ein Vater zu sein? Und doch würde er ihr das Herz brechen, wenn er versagte.
»Nimm einen Drink«, sagte Val leise und hielt ihm die Flasche hin.
Angel machte einen Schritt auf den Tisch zu, die Augen auf den Tequila gerichtet. Vals leise, gemessene Stimme hallte in seinem Hirn und er wusste, dass sie so war, wie die Stimme des Teufels sein würde, leise und tröstend und vernünftig klingend. Und sie würde sagen, was man hören wollte ...
Er ging so weit, dass er die Hand ausstreckte und die Finger um das warme Glas schlang. Er hob die Dreiviertelliterflasche hoch, drehte den Verschluss auf und roch den kräftigen, süßen Duft des Alkohols. Er wollte alles mit einem großen Schluck trinken, den Tequila seine Kehle hinunterrinnen lassen und ihn einem Feuer gleich in den Eingeweiden spüren, wollte diese Flüssigkeit alles fortspülen lassen - und wenn auch nur für einen einzigen Abend.
Aber er wusste, dass er, wenn er auch nur einen Drink nahm - nur einen einzigen -, in diese Flasche kriechen und wieder da sein würde, wo er angefangen hatte.
Er schloss die Augen. Zitternd, weil er den Drink so nötig brauchte, dass er sich mulmig fühlte, setzte er die Flasche wieder auf dem Tisch ab. »Ich kann's nicht, Val.«
Val runzelte die Stirn. Irgendetwas blitzte in den Augen seines Freundes auf - war es Eifersucht oder Furcht? Angel war sich nicht sicher. »Das machst du doch immer. Die anderen Herzanfälle...«
»Es ist nicht mehr so wie früher. Es darf nicht sein. Ich ... ich habe ein Kind.« Er lächelte. Es war das erste Mal, dass er die Worte laut gesagt hatte, und er hatte ein
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