Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Haar, das in Wellen bis in die Mitte ihres Rückens fiel, die vollen Augenbrauen und die Zigeuneraugen, die runden Formen ihres Körpers. Vor allem aber konnte er sich an ihr Lachen erinnern, das so kehlig und weich war.
Damals hatte sie immer gelacht.
Damals. Bevor er sie sitzen gelassen hatte.
Das letzte Mal, als er Madelaine gesehen hatte, hatte sie zusammengekauert an einem Ende des zerschlissenen Sofas gesessen, hatte im Wohnwagen seiner Familie so fehl am Platze ausgesehen. Ihr Kaschmirpullover hing traurig über einer Schulter. Ihre Wangen waren von Tränen feucht.
Er erinnerte sich wieder an all dies und mit der Erinnerung kam die brennende Scham. Die Lügen, die er ihr erzählt hatte, die Worte, die wie Gift von seinen Lippen getroffen waren, das Gefühl des Blutgeldes in seiner Hand, die anhaltende Erinnerung an ihren Duft - Babypuder und Ivory-Seife.
Und jetzt konnte sie sich endlich rächen.
Sein Leben hing von der Frau ab, die er betrogen hatte.
Kapitel 5
Madelaine saß auf der Kante von Linas Bett. Hier und da konnte sie noch Stücke der blassblauen gestreiften Laura-Ashley-Tapete sehen, die sie vor so vielen Jahren hatte anbringen lassen, aber der größte Teil der Wände war mit Postern von Rockgruppen bedeckt, von denen Madelaine nie etwas gehört hatte. Tausende winziger Reißzweckenlöcher in der teuren Tapete, jedes ein Stempel von Linas sich entwickelnder Persönlichkeit.
Madelaine legte sich auf das Bett zurück, schloss die Augen und dachte an ihre Tochter. Für eine Sekunde sah sie in Gedanken nur längst vergangene Bilder vor sich - Pustebäckchen und lachende blaue Augen, ein Paar speckige Beinchen, die über den Boden des Esszimmers watschelten. Ein zahnloses wundervolles Lächeln.
Ob alle Mütter so fühlten? Bewahrten alle Mütter ein Bild ihrer Babys in ihren Herzen auf, erwarteten, dass erwachsene Mädchen noch immer nach Talkumpuder und Babyshampoo dufteten?
Ach, sie hatte so viele Fehler gemacht. Sie hätte Lina die Wahrheit über ihren Vater schon vor vielen Jahren erzählen sollen. Bereits letztes Jahr, als sie gesehen hatte, wie es mit Lina abwärts ging, hätte sie die Ursache dafür vermuten müssen und reinen Tisch machen sollen. Aber sie hatte solche verdammte Angst davor gehabt, dass Lina sie nicht mehr lieben würde. Angst davor, dass ihr Baby sein Zuhause verlassen würde ...
Es war wundervoll gewesen, als nur sie beide, Mutter und Kind, in dem stillen Haus gewesen waren, Plätzchen gebacken und Gutenachtgeschichten gelesen hatten.
Längst vergessene Erinnerungen an die Tage, an denen sie selbst ein Teenager gewesen war, noch zum College ging und alleine ein Kind großzog, kamen ihr in den Sinn. Bilder von diesem entsetzlichen Apartment an der University Avenue, mit den Fenstern, die sich nicht öffnen ließen, und der Heizung, die nie funktionierte ... an die wackelige Treppe, die zu der purpurnen Vordertür führte ... an den Wagen, der jeden Morgen an der Ecke Fifteenth und University stehen blieb ... an die Nächte, als sie beide zum Abendessen Cornflakes mit Rosinen aßen und sie hoffte, dass die Milch noch frisch war. Doch selbst in den schlimmsten Zeiten - während der achtzehnstündigen Arbeitstage und ihres nächtlichen Studiums - hatte Madelaine Lina immer bei sich gehabt. Ein neugieriges Kleinkind, das sich an die Hüfte einer erschöpften Assistenzärztin klammerte. Damals hatten sie zusammengehalten. Sie beide gegen den Rest der Welt...
Aber dann hatte sich die Außenwelt eingemischt, hatte ihre klebrigen Finger ausgestreckt und nach Lina verlangt. Das war der Anfang vom Ende - als Lina langsam größer geworden war und Fragen zu stellen begann und Madelaines Fehler sah. Vielleicht hätte Madelaine gewusst, wie sie mit diesen täglichen Traumata umgehen sollte, wenn sie normale Schulen besucht hätte, mit Freundinnen aufgewachsen wäre. Doch so etwas hätte ihr Vater niemals erlaubt. Er hätte nie gestattet, dass Madelaine mit dem zusammen war, was er als Gesindel bezeichnete. Sie hatte jeden Tag ihrer Kindheit allein verbracht, von Freunden geträumt, die sie nie besuchen würden, und von Ausflügen, die niemals stattfanden. Sie wusste nichts von Schulbällen oder Rangeleien und noch weniger über Rebellion.
Sie wusste überhaupt nichts über Teenager, die verängstigt und aggressiv und verwirrt waren.
Madelaine wusste nur, wie man sich versteckte, heuchelte, lächelte, wenn der Schmerz so groß und tief wurde, dass sie manchmal nicht atmen
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