Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
hingehört. Wir verbringen ein ganzes Leben damit, das herauszufinden.«
»Du hast gut reden. Du liebst Mom und mich, aber du gehörst Gott.«
Es war ihm unmöglich, ihr darauf zu antworten. Doch er wünschte sich - Gott, wie sehr er das wünschte -, dass es so einfach für ihn wäre. »Ja«, sagte er langsam. »Das ist eine recht gute Zusammenfassung meines Lebens.«
»Wusstest du, dass Mom versprochen hat, mit meinem Dad Kontakt aufzunehmen?«
Für eine Sekunde konnte Francis nicht atmen. Schließlich antwortete er. »Nein, das wusste ich nicht.«
Lina grinste ihn an. »Ja. Ich bin irgendwie nervös, aber vor allem bin ich aufgeregt. Ich werde ihn schon bald kennen lernen.«
Francis spürte, dass die Furcht wiederkehrte, und auf sie folgte Scham. Gott mochte ihm verzeihen, aber er wollte nicht, dass Lina ihren Vater kennen lernte. »Tja«, sagte er schließlich. »Was hältst du davon, wenn wir eine Pizza essen gehen?«
»Du willst dem Kind einer Kardiologin eine Pizza anbieten?«
Er lachte und es war ein gutes Gefühl, so, als ob für eine Sekunde in seiner Welt alles normal wäre. »Ich werd's nicht verraten, wenn du's auch nicht verrätst.«
Lange nachdem sie ihn allein in seinem Zimmer gelassen hatte, lange nachdem die Krankenschwestern mit ihm fertig waren, lange nachdem Hilda ihre Litanei über die Abfolge des bald erfolgenden Ausnehmens abgefeuert hatte, konnte Angel noch immer nicht schlafen. Er hatte um mehr Medikamente gebeten, um schlafen zu können, doch die waren ihm verweigert worden, und so lag er da und war hellwach.
Denken war das Letzte, was er an diesem gottverlassenen Ort tun wollte. Aber er konnte die Bilder nicht aus seinem Verstand verdrängen. Francis und Madelaine bumsten heftig in einem Himmelbett und zwölf Kinder schliefen im Schlafzimmer nebenan. Ein weißer Zaun um eine blitzsaubere Turnhalle.
Er schloss seine Augen und wusste sofort, dass es ein Fehler war. Die Erinnerung überkam ihn, scharf und klar und mit herzzerreißender Deutlichkeit ...
Es war heller Tag gewesen, ein sonniger Sommertag, und Angel war an ein Krankenhausbett gefesselt. Francis saß neben ihm und sprach. Aber Angel war siebzehn und zu wütend, um zuzuhören - wütend darüber, dass er krank war, wütend auf den dämlichen Arzt, der ihm gesagt hatte, er müsse sein Leben ändern , dass er sterben würde, wenn er nicht besser auf sich Acht gab. Himmel noch mal - er wusste nicht, was Myokarditis war, und es war ihm auch scheißegal. Er wusste nur, dass er sich zu gut fühlte, um in einem Krankenhaus zu liegen. Er wollte nicht an ein Bett gefesselt sein, das sie sich nicht leisten konnten, wie seine Mutter nicht müde wurde, ihm zu erzählen.
Der Sommer lag vor ihm, lang und langweilig, und die Diagnose - Viralinfektion, die das Herz angriff- machte ihn völlig fertig. Die blöden Ärzte erzählten ihm dauernd, dass er sterben könne, wenn er nicht vorsichtig sei, dass er das Rauchen und Trinken sein lassen müsse, aber er fühlte sich völlig gesund. Mit seinem Herzen war alles in Ordnung.
Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich, aber Angel machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich selbst zu bemitleiden. Francis beugte sich zu ihm und flüsterte ein ehrfürchtiges »Jesus«.
Für eine Sekunde hatte Angel nicht gewusst, was sein Bruder meinte. Dann wandte er seinen Kopf und sah sie. Ein klapperdürres Mädchen - eine freiwillige Helferin in bunt gestreiftem Kleid - stand in der Tür mit großen Augen, die nicht blinzelten, nagte mit ihren Zähnen an ihrer vollen weichen Unterlippe. Sie hatte blasse, elfenbeinweiße Haut und dunkle Augenbrauen, die aussahen, als ob sie mit einem Filzstift gezogen seien. Sie presste einen Stoß von Heartbeat- und Tiger Betf £-Musikmagazinen an ihre Brust.
Angel hatte ihr freundliches Privatschülerinnengehabe ganz nett gefunden, aber dann gesehen, wie sie sich in den klaren blauen Augen seines Bruders widerspiegelte, und plötzlich war sie mehr geworden, so viel mehr. Das erste Mädchen, das Francis jemals zweimal angeschaut hatte.
»Jesus Maria«, flüsterte Francis wieder.
Angel hatte gehandelt, ohne weiter darüber nachzudenken. Er warf der schweigenden Helferin sein typisches Grinsen zu, jenes, das er gnadenlos bei den Mädchen in seiner schäbigen Umgebung einsetzte. Er wusste, dass er gut aussah - ein braun gebrannter, dunkelhaariger italienisch-irischer Junge mit einem rebellischen Ausdruck in seinen grünen
Weitere Kostenlose Bücher