Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Francis, der Gute und Perfekte - direkt durch diese Tür gegangen sein könnte.
Es sollte ihm egal sein.
Aber es war ihm nicht egal. Plötzlich interessierte ihn das irrationalerweise. Er wollte nicht, dass Madelaine die Frau seines Bruders war, die große Liebe seines Bruders. Er wollte sie so, wie sie immer gewesen war. Ein brillant koloriertes Foto in den sepiafarbenen Erinnerungen seines Lebens. Sein und sein allein.
Sie starrte ihn einen langen Augenblick an, wirkte enttäuscht und sagte dann sehr traurig: »Du kannst so berühmt wie Gott werden, aber das ändert nichts an den Tatsachen.« Sie beugte sich zu ihm, so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte. »Du wirst immer Francis DeMarcos kleiner Bruder sein.«
»Ich verbiete dir, ihm zu sagen, dass ich hier bin.«
»Oh, Angel.«
In diesem Moment, in dem Tonfall, in dem sie sprach, klang sein Name wie ein Fluch.
Madelaine bewegte sich hölzern auf ihren Schreibtisch zu. Sie setzte sich hin, zunächst mit stocksteifem Rücken, beugte sich dann sehr langsam vor, ließ beide Ellenbogen auf die Schreibtischplatte sinken und schloss die Augen.
Es hatte sie beträchtliche Selbstbeherrschung gekostet, kalt und uninteressiert zu wirken. Natürlich war Disziplin das Einzige, was sie perfekt beherrschte. Darin hatte sie sich geübt, seit sie Zöpfe trug - hatte gelogen, geheuchelt. In diesem großen Haus auf dem Hügel war das äußerliche Erscheinungsbild alles gewesen.
Ja, Vater, natürlich, Vater. Das werde ich selbstverständlich tun.
Sie war eine Meisterin dieser Art Täuschung, aber sie war nie dazu fähig gewesen, mit den unerfreulichen Nebenwirkungen fertig zu werden - dem trockenen Mund, dem klopfenden Herz, den feuchten Handflächen. Jedes Mal, wenn sie sich stark geben musste, war sie anschließend ein Wrack.
Sie hatte erwartet, dass Angel sich mehr geändert hätte. Jetzt, wo er weltberühmt war, reich und gut aussehend und erfolgreich, sollte er von Freunden umgeben sein. Aber weder Blumen noch Karten noch Anrufe waren für ihn gekommen. Auf dem Korridor wartete keine Frau auf ihn. Es gab keine Freunde, die an seinem Bett saßen. Jetzt, wo es um alles ging, war er völlig allein.
Was hatte er jetzt?, überlegte sie. Was bereitet ihm Freude? Drogen, Gratissex, ein oder zwei Schlägereien in einer schäbigen Kneipe, eine Oscar-Nominierung? Sie fragte sich, ob all die Fotos, die sie im Lauf der Jahre von ihm gesehen hatte, Lügen waren - ein unaufrichtiges Lächeln für eine blitzende Kamera.
Früher, in den alten Zeiten, hatte sie gewusst, was in ihm vorging - oder es zumindest geglaubt. Rein äußerlich war er immer aufbrausend und wütend gewesen, innerlich aber ebenso verletzt wie sie selbst. Sie hatte immer gewusst, dass in ihm ein Loch war, eine tiefe, verborgene Stelle, die blutete. Sie wusste es, weil sie das gleiche Loch in ihrer Seele hatte. Das in ihr war aus Einsamkeit geboren und vertieft aus der Erkenntnis, dass ihr Vater sie verachtete. Im Lauf der Jahre hatte sie es mit einer blanken, dünnen Mauer von Glas überdeckt, durch die sie sich zerbrechlich und leicht angreifbar fühlte. Aber immerhin bot die ein wenig Schutz.
Doch wer wusste schon, wie es bei Angel war?
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch läutete, unterbrach ihre Gedanken. Sie nahm den Hörer ab und hörte Hildas Stimme. »Es ist Tom, Madelaine. Herzstillstand.«
»Scheiße!« Madelaine warf die Papiere auf ihren Schreibtisch und eilte zur Tür. Während sie über den Korridor rannte, hörte sie das Plärren des Alarms aus den Lautsprechern. Notfall, Intensivstation... Notfall, Intensivstation.
Sie schlitterte förmlich in den Raum. Weiß und blau gekleidete Leute drängten sich um das Bett, schrien einander an, riefen nach Instrumenten. Hilda war bereits da, stand über Tom gebeugt, hatte die Hände aufeinander gelegt und drückte auf seine Brust. Sie sah Madelaine und warf ihr einen panischen Blick zu. »Wir verlieren ihn.«
»Gebt mir den Wagen«, bellte Madelaine, die sich durch die Menge zum Bett drängte. Der Wagen wurde zu ihr geschoben. »Intubieren«, sagte sie.
»Lidocainum läuft«, antwortete die Zweitschwester.
Madelaines Blick flog zum Monitor. »Scheiße«, zischte sie wieder. Es wirkte nicht. »Scheiße. Defibrillator.«
Jemand reichte ihr die Elektroden des Defibrillators. Hilda riss Toms Kittel auf und Madelaine presste die Elektroden auf die hässliche rote Narbe, die seine Brust teilte. »Los!«
Strom schoss durch Toms geschundenen
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