Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Körper. Sein Rücken hob sich vom Tisch, fiel dann wieder zurück. Alle Blicke wanderten zum Monitor. Flache Linie.
»Noch mal«, sagte Madelaine.
Wieder zuckte Tom in einem unmenschlichen Krampf auf dem Tisch. Madelaine hielt den Atem an. Sie starrte auf den schwarzen Kasten. Ein kaum hörbares Blip-blip-blip drang aus dem Monitor. Eine pinkfarbene Linie bildete einen Höcker darauf, dann eine Wellenform und rutschte weiter.
»Wir haben einen Puls ... Blutdruck achtzig zu fünfzig und steigend...«
Madelaine seufzte erleichtert auf. Ein Geräusch, in das die anderen im Raum nach und nach einfielen.
»Fast ein Fall für den Leichenbestatter«, sagte Hilda mit einem müden Lächeln, während sie Tom extubierte.
Madelaine antwortete nicht darauf. Die Mitglieder des Teams verließen einer nach dem anderen den Raum, sprachen miteinander. Der Noteinsatz war bereits vorbei und die übliche Routine ging weiter.
Hilda blieb. Sie legte eine Hand auf Madelaines Schulter. »Bis zu diesem Zeitpunkt war bei ihm alles gut verlaufen. Die Medikamente wirkten gut. Die Biopsie war negativ.«
Madelaine nickte. Sie versuchte ein Lächeln, aber es kostete sie zu viel Anstrengung. »Danke, Hilda. Ich werde noch eine Minute bei ihm bleiben.«
Hilda eilte aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Madelaine beugte sich über Tom und flüsterte ihm ins Ohr.
»Kämpf weiter, Tom. Kämpf mit aller Kraft. Du wirst es schaffen.« Sie wusste, dass die meisten Mitglieder der medizinischen Gemeinde ihre Auffassung nicht teilten, aber Madelaine glaubte daran, dass die Kraft des Verstandes und des Geistes den Körper heilten. Zumindest wollte sie, dass das wahr war.
Toms Augen öffneten sich mit einem Lidflattern. »He, Doktor«, sagte er mit kratziger Stimme. »Ist ein Gefühl, als ob jemand mit einem monströsen LKW über meine Brust gefahren wäre.«
Sie lächelte ihn an. »Ich bekenne mich schuldig. Ich hab auf einen Mann geschossen, als er schon am Boden lag.«
»Ihr Emanzen ... ihr seid doch alle gleich.«
Sie lachte leise. »Emanzen. Also die Formulierung habe ich wirklich lange nicht gehört. Sie machen sich unnötig älter, als Sie sind, Tom.«
»Glauben Sie mir ...« Er hustete und rieb sich seine Kehle. »In meiner Lage ist man stolz darauf, älter zu werden.« Dann berührte er ihre Hand für eine Sekunde, so sanft, dass sie nicht einmal bemerkte, was er getan hatte. »Bleiben Sie noch ein bisschen.«
Sie sah die Furcht in Toms Augen, die Regung, die er so angestrengt hinter einem Schild von Scherzen und lockeren Sprüchen zu verbergen versuchte. »Wann wird Susan hier sein?«
»Nach der Arbeit. Dauert nicht mehr lange.«
Madelaine griff zum Telefon und wählte die Nummer des Pfarrhauses. Die Haushälterin holte Francis ans Telefon.
»Hi, Francis«, sagte sie mit weicher Stimme. »Könntest du Lina von der Schule abholen?«
»Ist doch keine Frage. Möchtest du, dass ich mit ihr essen gehe?«
»Das wäre großartig«, antwortete sie. »Ich werde in ein paar Stunden zu Hause sein.«
Sie legte den Hörer auf, griff dann hinter sich und zog einen Stuhl heran. Sie setzte sich und beugte sich über das Bett. »Gestern Abend haben Sie mir von den Reitstunden Ihrer Tochter erzählt...«
Francis stand unter der alten Eiche an der Pacific Street. Gedämpftes Sonnenlicht fiel durch die welkenden Blätter und malte ein Gewirr von Gold auf das Gras.
Die Glocke schlug. Binnen weniger Augenblicke kamen Kinder aus dem Ziegelgebäude gerannt, hüpften über die breiten Zementstufen. Auf dem Vorplatz teilten sie sich in Reihen und schwärmten aus, gingen auf die Busse zu, die auf der Zufahrt geparkt waren.
Wie er erwartet hatte, war Lina unter den Letzten, die herauskamen. Sie ging mit ihrer Clique - sie sahen aus wie ein Haufen von Flüchtlingen aus der Notaufnahme einer Station des Roten Kreuzes.
Er löste sich von dem Baum und winkte ihr zu. »Lina! Komm her.«
Er wusste, in welchem Augenblick sie ihn sah - sie lächelte instinktiv, änderte dann ihr Verhalten. Sie murmelte den anderen ein »Tschüs« zu, zog ihre übergroßen Jeans hoch und schlenderte auf ihn zu. Ihr gestutztes Haar wippte bei jedem Schritt. Ihr Rucksack baumelte schlaff an ihrer linken Hand. Der Leinenstoff schleifte über den Zementbürgersteig, während sie in seine Richtung ging.
Er lächelte sie an. »Ich sehe, du treibst dich noch immer mit der Bande herum.«
»Ts, ts - das ist keine sehr christliche Bemerkung.« Sie warf ihm einen
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