Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
starrte auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte. Selbstmord. Ein Frösteln erfüllte sie.
»Hat sie das schon mal gemacht?« Das war die Frage, die sie stellte. Die Worte, die sie formulierte. Aber was sie wirklich wissen wollte, wissen musste, war: Wie viele Schreie habe ich nicht gehört?
»Sie ist sehr entschlossen vorgegangen. Scheint mir, als hätte sie's schon vorher getan.«
Madelaine schloss ihre Augen. Natürlich hatte Lina es schon vorher getan. Wenn Lina die Tochter von irgendjemand anderem wäre, hätte Madelaine die Alarmzeichen längst schon bemerkt - unzufriedener Teenager, verärgert und rebellisch, suchte nach Aufmerksamkeit.
Das alles passte auf Lina. Alles. Dieses neue Interesse an Heavy-Metal-Musik. Diese Verrücktheit, sich Ohrlöcher stechen zu lassen. Die Schulschwänzerei. Die Kleidung. Das Verhalten. Lina war ein Teenager, der Probleme hatte. Und Ladendiebstahl war - ob sie's wusste oder nicht - ein Hilfeschrei. Madelaine musste stark genug sein, um auf diesen Schrei zu reagieren.
»Doktor Hillyard?«
Sie hob langsam ihr Kinn und sah den Sozialarbeiter an. »Ich will ihr helfen, Mr Spencer, aber...« Die Worte schienen sie nach unten zu ziehen und es machte sie traurig, dass sie Angst davor hatte. Wie konnte eine so hoch geschätzte Ärztin Fremden gegenüber so stark sein und so schwach bei ihrem eigenen Kind? Sie spürte, dass Tränen der Scham und der Niederlage in ihren Augen brannten.
»Ich habe selbst eine sechzehnjährige Tochter, Doktor Hillyard. Man kann sie mehr als sein eigenes Leben lieben und ihnen alles geben, was man hat. Aber ...« Er zuckte die Schultern. »Dabei kommt Scheiße raus. Passiert eben.«
»Ich ... hätte sie besser erziehen sollen ... hätte öfter da sein müssen...«
»Es geht nicht um die Schuldfrage, Doktor Hillyard. Sie sind Mutter, sie ist ein Teenager - glauben Sie mir, man kann jede Menge Schuldzuweisungen machen. Aber worauf Sie sich jetzt konzentrieren müssen, ist Veränderung.«
Sie riss sich zusammen. »Wie mache ich das?«
»Das ist die große Preisfrage. Ich mache das mit Ehrlichkeit und Konsequenz.« Er lächelte. Seine Augen zwinkerten. »Und wenn das nicht funktioniert - nehmen Sie ihr den Fernseher weg, geben Sie ihr Stubenarrest und verbieten Sie ihr, das Telefon zu benutzen.«
Madelaine blickte überrascht auf. Das war nicht der Ratschlag, den sie erwartet hatte. Sie dachte an ihre eigene Kindheit, an dunkle, erschreckende Bilder der »Disziplin« ihres Vaters, und spürte Übelkeit in ihrem Magen aufsteigen. »Das funktioniert? In allen Büchern steht...«
Er wies die Expertenmeinungen mit einer Handbewegung weit von sich. »Die Bücher sind in Ordnung, denke ich, aber es gibt Zeiten, in denen Reden überhaupt nicht mehr hilft. Ein Kind braucht ganz klare und einfache Regeln. Ach ja - und ich würde sie auffordern, sich beim Geschäftsführer des Drugstore zu entschuldigen.« Er stand auf. »So, Doktor Hillyard. Wie wär's, wenn wir Ihre Tochter aus der Arrestzelle holen?«
Lina lag zusammengekauert auf der schmalen, stinkenden Pritsche. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen. Die Tränen, die sie geweint hatte, waren schon längst auf ihren Wangen getrocknet.
An diesem düsteren Ort gab es überall Geräusche - das Klirren von Gittertüren, die geöffnet und geschlossen wurden, die mürrischen Stimmen und schrillen Schreie von jugendlichen Bandenmitgliedern, das schwere Stapfen von Schritten auf dem Steinboden. Jedes Geräusch bewirkte, dass sie sich auf dem schmutzigen Bett noch mehr zusammenkauerte.
Dieser Ort wird dir wie ein Kinderspiel vorkommen, junge Dame, wenn man dich erst einmal in den Knast geschickt hat.
Die Worte des Sozialarbeiters fielen Lina wieder ein, machten ihr wieder Angst. Sie musste ständig an ihr Bett daheim denken - groß und frisch duftend und mit Laura-Ashley-Bettwäsche bezogen.
»Ich liebe Schinken und Käse-Omeletts«, flüsterte sie, spürte, dass wieder Tränen aufstiegen, ihr die Kehle zuschnürten und in ihren Augen brannten.
Was hatte sie dazu gebracht, sich so gemein gegenüber ihrer Mutter zu verhalten? Lina wusste, wie sehr sich ihre Mutter bemühte, ihr zu gefallen - sie hatte die weite Trainingshose bemerkt, das Fehlen von Make-up, das viel zu breite Lächeln, das die tiefe Verzweiflung in den Augen ihrer Mutter kaschieren sollte.
Ja, sie wusste, dass ihre Mom sie liebte, wusste, dass sie für sie, Lina, nur das Beste wollte. Warum also konnte sie es ihr nicht leichter
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