Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
konnte.
Bedauern überkam sie. Wieder einmal hatte sie die falsche Wahl getroffen, zur falschen Zeit das Falsche gesagt.
Aber sie würde das wieder gutmachen.
Wenn Francis von seiner Reise zurückkam, würde sie wieder gutmachen, dass sie ihn heute verletzt hatte.
Im Jugendgericht herrschte Betrieb wie in einem Bienenstock. Gequält wirkende Männer und Frauen liefen wie Ameisen über den Fliesenboden hin und her, sprachen und gestikulierten. Braune Vinylstühle, die meisten davon leer, säumten die Wände. Aber auf einigen saßen Erwachsene, die ebenso nervös wirkten, wie Madelaine sich fühlte. In der Mitte von all dem saß eine weißhaarige Frau an einem riesigen Schreibtisch, bediente das Telefon und dirigierte den Verkehr mit einem Kopfnicken oder einem Schnippen ihres Zeigefingers.
Madelaine fühlte sich von allen Seiten beobachtet, als sie die betriebsame Lobby durchquerte und zu dem Schreibtisch ging.
Die Frau mit dem dicken Doppelkinn blickte zu ihr auf. »Hallo.«
Sie musste ihre Stimme heben, um durch den Lärm verstanden zu werden. »Ich bin hier, um meine Tochter abzuholen. Lina Hillyard.«
Die Empfangsdame blätterte in ihren Papieren. »Oh. Ladendiebin. John Spencer ist der Sozialarbeiter, dem ihr Fall übertragen worden ist. Sie finden ihn in Zimmer hundertacht, den Gang runter, dann die zweite Tür rechts.«
Madelaine bewegte sich durch den bevölkerten Korridor, ohne zu jemand Blickkontakt aufzunehmen. Ihre Handtasche hielt sie fest an ihre Seite gepresst. Als sie schließlich Zimmer 108 erreicht hatte, wütete ein schrecklicher Schmerz in ihrem Magen, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Sie blieb vor der geöffneten Tür des Zimmers stehen. Drinnen saß ein junger Afroamerikaner an einem wuchtigen Metallschreibtisch in einem Büro mit braunen Wänden. Drei Tassen offensichtlich kalten Kaffees standen in exakter Linie an der oberen rechten Schreibtischkante aufgereiht. Er blickte auf, als sie eintrat. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin Doktor Madelaine Hillyard. Linas Mutter.«
Er nickte und suchte in dem Stapel von Akten auf seinem Schreibtisch, zog dann vorsichtig eine heraus. Er wies auf einen Stuhl und schlug die Akte auf. »Nehmen Sie bitte Platz, Doktor Hillyard.«
Madelaine ging zu dem kleinen schwarzen Metallstuhl und hockte sich nervös auf die Vorderkante der Sitzfläche.
Nach einem Moment blickte er von der Akte auf und lächelte sie an. »Ihre Tochter ist eine richtige Giftspritze.«
»Ja.«
»Der Ladendetektiv von Savemore Drugs erwischte sie beim Ladendiebstahl. Make-up. Hat sie auch auf dem Überwachungsvideo festgehalten. Wollen Sie's sehen?«
Madelaine wünschte sich, dass es nötig wäre, aber sie wusste, dass Lina das getan hatte - und sie wusste warum. Es war Linas Art, sich an einer Mutter zu rächen, die einen Anruf nicht tätigen wollte.
»Nein.«
»Gut. Manche Eltern können einfach nicht glauben, dass ihre wundervollen Kinder etwas Falsches tun.« Er schob seinen Sessel vom Schreibtisch zurück und stand auf. »Ich mache Ihnen folgendes Angebot. Es ist ein Erstdelikt und der Laden ist bereit, zu ignorieren, was sie getan hat.«
Madelaine sank vor Erleichterung fast zusammen. Doch bevor sie in dem Gefühl versinken konnte, fuhr Spencer fort: »Aber das nützt Ihrer Tochter einen Scheiß - entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Sie muss sich über die Konsequenzen dessen, was sie getan hat, im Klaren sein.«
Er sah Madelaine direkt an. »Sie ist verängstigt - das sind sie alle beim ersten Mal -, aber von jetzt an liegt's bei Ihnen.«
Sie wollte fragen, was sie tun sollte, um Hilfe bitten, wusste aber nicht wie. Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie hatte Dutzende von Büchern über Erziehung gelesen und in allen stand, sie solle vernünftig mit Lina reden, sie solle ihrer Tochter Alternativen anbieten und sie lehren, Entscheidungen zu treffen. Es war ein guter Rat. Das wusste Madelaine. Aber es funktionierte nicht, bei ihr nicht und bei Lina ohnehin nicht. Der einzige andere Weg, den sie kannte, war der Weg, den ihr Vater gewählt hatte.
»Ich arbeite hier schon ziemlich lange, Doktor Hillyard. Ihre Tochter steht kurz vor echten Problemen.« Spencer trat näher und nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz. »Dies ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Der nächste Schrei wird vielleicht nicht so leicht zu lösen sein. Die Selbstmordrate unter Teenagern, die Probleme haben ...«
Madelaine keuchte und löste den Blickkontakt,
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