Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
aber sie musste endlich einmal Mutter sein, nicht Freundin. Sie musste den Ton angeben, und das entschlossen, und wenn sie scheiterte -wieder einmal -, würde sie ihre Tochter verletzen.
»Nimm deine Sachen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Wir fahren heim.«
Seite an Seite, in fast unerträglichem Schweigen, verließen sie das Gebäude. Spätes Nachmittagssonnenlicht, durch die Jahreszeit zu einem kühlen Gold geschwächt, fiel auf ihre Gesichter. Noch immer schweigend, stiegen sie in den Volvo und fuhren zu dem Drugstore. Madelaine schaute von weitem zu, als Lina sich bei dem Geschäftsführer dafür entschuldigte, das Mascara gestohlen zu haben, und als Lina sich schließlich abwandte, sah Madelaine die Tränen, die in den Augen ihres Kindes schwammen.
Gott, wie sehr es schmerzte, die Qual ihrer Tochter zu sehen. In diesem Augenblick wollte Madelaine Lina in ihre Arme nehmen, sie halten und trösten, aber sie bot all ihre Willenskraft auf und rührte sich nicht. Ihre Augen blieben trocken. Dann führte sie Lina wortlos zum Wagen zurück und sie fuhren nach Hause.
Als sie das Haus erreichten, waren Madelaines Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie wusste, es war eine Sache zu beschließen, Regeln durchzusetzen - aber es war eine ganz andere, ihre Tochter anzusehen, die sie mehr liebte als ihr eigenes Leben, und nein zu sagen. Und wirklich nein zu meinen.
Sie stellte den Motor ab und ergriff ihre Handtasche. Lina sprang aus dem Wagen und eilte auf das Haus zu, verschwand darin.
Als Madelaine in das Haus trat, war Lina bereits am Telefon. Die Stimme ihrer Tochter war laut, ein lebhaftes Geschwätz, unterbrochen von schallendem Gelächter.
»Und dann haben sie mich in diesen kleinen Raum eingesperrt... Ja, war irgendwie cool. Genau wie das, was Brittany Levin passiert ist...«
Madelaine starrte ihre Tochter ungläubig an. Es war einer dieser Augenblicke im Leben, in denen Gedanken eine kristallklare Form annehmen, winzige Herzschläge von Zeit, nach denen man verändert ist, wenn sie vorbeigegangen sind. Lina hatte diese schreckliche Zeit im Jugendarrest durchgemacht, sie war verängstigt gewesen und ganz kleinlaut, zurückhaltend. Doch jetzt verflogen diese Gefühle, schwanden auf der Welle der Entfernung, die zwischen dem Jetzt und der Arrestzelle lag.
Und sie rechnete damit, dass Madelaine die Erinnerung daran verdrängen würde, rechnete damit, dass ihre Mutter eine Phantasiewelt erschaffen würde, in der dieser Ladendiebstahl nie stattgefunden hatte.
Madelaine empfand heftigen Ärger. Er kam so schnell und plötzlich, dass es sie überraschte. Lina war sicher, dass Madelaine die ganze blöde Geschichte unter den Teppich kehren wollte, dass der Diebstahl nur eine von so unendlich vielen anderen Dingen sein würde, über die Madelaine Angst hatte, zu sprechen.
Diesmal nicht.
Madelaine hob ihr Kinn und durchquerte die Küche. Sie nahm wortlos den Telefonhörer aus der Hand ihrer Tochter und knallte ihn auf die Gabel.
»Wa... wie?«, stammelte Lina, stemmte ihre Hände in die Hüften und funkelte ihre Mutter wütend an. »Nett, Mom. Jetzt muss ich Jack zurückrufen.«
Madelaine blieb eisern. »Nein, das wirst du nicht«, sagte sie gleichmütig. »Du wirst nicht mehr telefonieren.« Sie streckte ihre Hand zu Lina aus, die Handfläche nach oben. »Das Fahrradschloss. Sofort.«
Lina starrte ihre Mutter schockiert an. »Du machst wohl Witze.«
»Sehe ich so aus?«
Lina runzelte plötzlich die Stirn. Sie trat einen Schritt zurück. »He, Mom, nun hör mal...«
»Gib mir das Schloss und die Schlüssel.«
Sie angelte sie aus ihrem Rucksack und warf sie Madelaine zu. »Schön. Jett kann mich zur Schule fahren.«
Madelaine schüttelte ihren Kopf. »Ich werde dich jeden Morgen zur Schule bringen und abholen. Ohne meine Erlaubnis wirst du nirgendwohin gehen - nirgendwobin.«
Lina stieß ein bellendes Lachen aus. »Ja, in Ordnung. Frau Niemals-daheim wird mein Leben regulieren.«
»Ich kann's einrichten, daheim zu sein, Lina. Ich kann mich von der Arbeit für ein Jahr beurlauben lassen und die ganze Zeit daheim sein. Willst du das?«
»Ich will meinen Vater«, schrie sie zurück.
Madelaine hätte es wissen müssen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Lina den unglaublichen, unbekannten Vater benutzte, um ihre Mutter zu verletzen - aber es schmerzte dennoch. »Lass uns über ihn reden, Lina. Das willst du doch, richtig? Du willst alles über deinen Vater wissen. Na schön. Dein Vater war ein
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