Kristin Lavranstochter 1
für die Sünden der ganzen Welt, zu tragen. Der Herr des himmlischen Sturmzeltes bezwang es, wie der Ritter seinen Streithengst bezwingt; den Heerführer der Sonnenburg trug es in den Kampf. Da geschah jenes Wunder, das der Schlüssel zu tieferen und immer tieferen Wundern war. Das Blut, das über das Kreuz herabrann, zur Erlösung für alle Sünder und zur Heilung allen Kummers, dieses Blut war das sichtbare Zeichen. Dieses erste Wunder konnte die Augen der Seele öffnen zur Betrachtung der noch dunkleren Wunder - Gott, der zur Erde herabstieg, der Sohn einer Jungfrau und der Bruder des Menschengeschlechtes, der die Hölle bezwang und mit seiner Beute befreiter Seelen zu dem blendenden Lichtmeer emporstürmte, aus dem die Welt hervorgegangen ist und das die Welt erhält. Hinein in diese grundlose und ewige Tiefe von Licht wurden seine Gedanken gezogen, und dort in dem Licht vergingen sie und verschwanden wie eine Schar Vögel im Glanz des Abendhimmels.
Erst als es von der Kirche her zum Frühgesang läutete, stand Gunnulv auf. Es war ganz still, als er durch die Stube ging -sie schliefen, Kristin und Orm. - Draußen auf dem pechschwarzen Hofplatz stand der Priester eine Weile wartend da. Aber niemand von seinen Leuten kam, um ihn zur Kirche zu begleiten. Er verlangte nicht, daß sie mehr als zwei Gottesdienste am Tag hören sollten. Ingrid aber, seine Pflegemutter, ging fast stets mit ihm zum Frühgesang. An diesem Morgen schlief sie wohl auch. Ach ja, sie war den Abend zuvor lange aufgewesen.
Den Tag über sprachen die drei Verwandten wenig zusammen und nur über nebensächliche Dinge. Gunnulv sah müde aus, aber er scherzte über allerlei. „Wie töricht waren wir doch gestern abend, da saßen wir so sorgenvoll wie drei verlassene Kinder“, sagte er einmal; es ereigneten sich viele lustige Dinge in Nidaros - mit Pilgern und anderen Leuten, von denen die Priester sich gegenseitig scherzend erzählten. Ein alter Mann aus dem Herjetal war im Auftrag seiner ganzen Gemeinde nach Nidaros gepilgert - und dann hatte er alle Gebete völlig durcheinandergebracht; es hätte schlimmer ausgesehen in seiner Gemeinde, wenn Sankt Olav ihn beim Wort genommen hätte -wie ihm später einfiel.
Gegen Abend kam Erlend an, triefend naß - er war bis zur Stadt gesegelt, und jetzt ging wieder ein starker Wind. Wütend war er und überfiel Orm sofort mit zornigen Worten. Gunnulv hörte eine Weile zu.
„Wenn du so zu Orm redest, Erlend, dann bist du ganz wie unser Vater - wie er zu sein pflegte, wenn er mit dir sprach.“ Erlend schwieg jäh. Dann polterte er wieder los:
„Ich weiß, aber so unvernünftig war ich als Knabe nicht -vom Hof davonzulaufen, ein krankes Weib und ein Knabe, der noch ein Kind ist, im Schneesturm! Mit Orms Männlichkeit kann man sonst nicht so laut prahlen, aber seinen Vater fürchtet er nicht, das kannst du sehen!“
„Auch du hast deinen Vater nicht gefürchtet“, meinte der Bruder lächelnd.
Orm stand vor dem Vater, schwieg und bemühte sich, gleichgültig auszusehen.
„Ja, du kannst gehen“, sagte Erlend. „Ich habe jetzt die ganze Wirtschaft auf Husaby bald satt. Das aber weiß ich, diesen Sommer soll Orm mich nach Norden begleiten, dann wird aus diesem Schoßkind Kristins wohl endlich einmal etwas werden. Er ist auch gar nicht so ungeschickt“, wandte er sich eifrig an den Bruder. „Er schießt treffsicher, das kann ich dir sagen; furchtsam ist er nicht, aber er ist immer störrisch und verstockt, und dann ist es gleichsam, als habe er kein Mark in den Knochen.“
„Ja, wenn du deinen Sohn oft so ausschiltst wie jetzt, dann ist es kein Wunder, daß er verstockt wird“, sagte der Priester. Erlend schlug um, lachte und sagte:
„Ich mußte doch vom Vater oft noch Schlimmeres ertragen -und das weiß Gott, ich wurde nicht verstockt dadurch. Aber laß es gut sein - nun bin ich hier, jetzt wollen wir die Weihnachtszeit feiern, da nun einmal Weihnachten ist. Wo ist Kristin? Was war es denn wieder, was sie dir sagen wollte?“
„Ich glaube nicht, daß sie über etwas Bestimmtes mit mir sprechen wollte“, entgegnete der Priester. „Sie hatte Sehnsucht, in der Weihnachtszeit die Messe hier zu hören.“
„Sie sollte sich doch an dem genügen lassen können, was sie daheim hat, dünkt mich“, sagte Erlend. „Aber es ist ein Jammer um sie - sie verliert ihre ganze Jugend auf diese Weise.“ Er schlug die eine Hand in die andere. „Ich verstehe unseren Herrgott nicht, er kann doch nicht
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