Kristin Lavranstochter 1
meinen, daß uns jedes Jahr ein neuer Sohn not tut.“
Gunnulv blickte den Bruder an.
„Hm. Ja, ich weiß ja nicht, was unser Herrgott meint, was euch not tut. Aber der Kristin tut wohl am meisten not, daß du freundlich zu ihr bist.“
„Ja, das tut ihr wohl not“, sagte Erlend leise.
Am nächsten Morgen ging Erlend mit seiner Frau zur Tagesmesse. Sie wollten zur Gregoriuskirche - Erlend hörte stets die Messe dort, wenn er in der Stadt war. Die beiden gingen allein, und auf dem Weg, wo der Schnee zu schweren und nassen Haufen zusammengeweht war, geleitete Erlend seine Gattin fein und höfisch an der Hand. Er hatte ihr gegenüber mit keinem Wort ihre Flucht erwähnt, und zu Orm war er seit dem ersten Sturm freundlich gewesen.
Kristin ging bleich und still dahin, den Kopf ein wenig gesenkt; der lange schwarze Pelzumhang mit den silbernen Schließen schien schwer auf ihrem schmächtigen und dünnen Körper zu lasten.
„Soll ich mit dir heimreiten? Dann kann Orm zu Schiff nach Hause fahren“, sagte der Mann. „Du willst wohl lieber nicht über den Fjord fahren, du ...“
„Nein, du weißt, ich gehe nur ungern auf ein Schiff.“
Das Wetter war jetzt still und lind - von den Bäumen fiel von Zeit zu Zeit die Last des schweren nassen Schnees herab. Der Himmel hing tief und dunkelgrau über der weißen Stadt. Auf dem Schnee lag ein grüngrauer Schimmer von Nässe, und die Balkenwände der Häuser und die Zäune und Baumstämme schienen in der feuchten Luft schwarz. Kristin dünkte es, sie habe nie die Welt so kalt und bleich und verblichen gesehen.
3
Kristin saß mit Gaute auf dem Schoß und blickte von dem Hügel nördlich des Hofes ins Land hinaus. Es war solch ein schöner Abend. Der See unten lag vollkommen blank und still da und spiegelte die Höhen und die Höfe von By und die goldenen Wolken am Himmel wider.
Ein starker Duft von Laub und Erde stieg nach dem Regen vom Tage zuvor auf. Das Gras unten auf den Wiesen mußte bereits kniehoch sein, und die Erde auf den Äckern war schon ganz von Grün bedeckt.
Die Luft trug weit an diesem Abend. Jetzt begannen wieder
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die Pfeifen und Trommeln und Geigen unten auf der Tanzwiese bei Vinjar - es klang so schön hier herauf.
Der Kuckuck schwieg oft lange Zeit, dann aber lockte er wieder irgendwo weit drüben im südlichen Wald. Und die Vögel pfiffen und sangen in allen Hainen rings um den Hof - aber nur dann und wann und leise, denn die Sonne stand noch hoch.
Brüllend und läutend kam das Vieh von dem eingezäunten Weideland oberhalb des Hofes herab.
„Nun bekommt mein Gaute bald seine Milch“, scherzte sie mit dem Kind und hob es empor. Der Knabe lag wie gewöhnlich mit dem schweren Kopf auf der Schulter der Mutter. Von Zeit zu Zeit schmiegte er sich dichter an - Kristin nahm es für ein Zeichen, daß er ihr Plaudern und ihre Schmeichelworte doch verstand.
Sie ging zu den Häusern hinunter. Vor dem Wohnhaus sprangen Naakkve und Björgulv umher und lockten die Katze, die sich vor ihnen auf das Dach gerettet hatte. Dann griffen die Knaben wieder zu dem zerbrochenen Dolch, den sie gemeinsam besaßen, und gruben weiter an dem Loch im Erdboden der Vorstube.
Dagrun kam und brachte in einer Bütte Ziegenmilch, und die Hausfrau ließ Gaute eine Schöpfkelle nach der anderen voll dieses warmen Trunkes schlürfen. Der Knabe brummte böse, wenn die Dienstfrau ihn anredete, schlug nach ihr und verbarg sich an der Brust der Mutter, wenn die Magd nach ihm greifen wollte.
„Und doch scheint es mir, als sei er frischer geworden“, sagte die Stallmagd.
Kristin hob das kleine Gesicht mit ihrer Hand empor - es war gelbweiß wie Talg, und die Augen blickten stets müde. Gaute hatte einen großen schweren Kopf und dünne kraftlose Glieder. Acht, Tage nach der Lavransmesse wurde er zwei Jahre alt, aber noch immer konnte er nicht auf seinen Füßen stehen, auch hatte er erst fünf Zähne und konnte noch kein Wort sprechen.
Sira Eiliv sagte, Gliederkrankheit sei es nicht, weder das Meßgewand noch die Altartücher hätten geholfen. Überall, wohin der Priester auch kam, fragte er um Rat für die Krankheit, die über Gaute gekommen war. Kristin wußte, daß der Priester in allen seinen Gebeten des Kindes gedachte. Aber zu ihr konnte er nichts anderes sagen, als daß sie sich demütig unter
Gottes Willen beugen müsse. Und dann solle sie Gaute warme Ziegenmilch zu trinken geben.
Armer kranker Knabe - Kristin drückte ihn an sich und küßte ihn, als die Magd
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