Kristin Lavranstochter 1
besten Kräften geehrt. Wie leicht er auch die Furcht vor der Sünde vergaß, wie leicht er auch schließlich sein vor der Kirchentüre Gott gegebenes Versprechen gebrochen hatte - er war stets traurig gewesen über seine Sünden gegen sie, hatte jahrelang gekämpft, um seine Versprechen ihr gegenüber halten zu können.
Sie selbst hatte ihn erwählt. Sie hatte ihn in einem Rausch der Liebe erwählt, und sie hatte ihn jeden Tag in den harten Jahren daheim auf Jörundhof von neuem erwählt. Seine unbekümmerte Liebe drängte die Liebe des Vaters zurück, die es nicht ertrug, daß ein unsanfter Windhauch sie berührte. Sie hatte das Schicksal verschmäht, das der Vater ihr gönnte, als er sie in die Arme eines Mannes legen wollte, der sie gewißlich auf den sichersten Wegen geführt hätte und sich sogar noch gebückt haben würde, um jeden kleinsten Stein auf die Seite zu räumen, an dem sie ihren Fuß hätte stoßen können. Sie hatte erwählt, dem anderen zu folgen, von dem sie wußte, daß er auf Irrwegen ging. Mönche und Priester hatten ihr den
Weg der Reue und Buße heim zum Frieden gewiesen - sie hatte lieber den Unfrieden erwählt, als daß sie ihre köstliche Sünde hätte fahrenlassen.
Darum gab es nur eines für sie: sich nicht zu Boden drücken zu lassen und nicht zu klagen, was auch an der Seite dieses Mannes über sie kommen würde. Schwindelnd lange schien es ihr nun her zu sein, seit sie ihren Vater verlassen hatte. Aber sie sah sein geliebtes Gesicht vor sich, entsann sich seiner Worte an jenem Tag in der Schmiede, da sie ihm den letzten Messerstoß ins Herz versetzte, erinnerte sich ihres Gespräches oben auf dem Gebirge in jenem Augenblick, da sie verstand, daß die Türe des Todes für ihren Vater geöffnet war. Unwürdig ist es, über das Schicksal zu klagen, das man sich selbst erwählt hat... Heiliger Olav, hilf mir, auf daß ich mich der Liebe meines Vaters nicht völlig unwürdig erweisen muß.
Erlend, Erlend... Als sie ihm in der Jugend begegnete, gestaltete sich das Leben für sie wie ein reißender Fluß in seinem Lauf über Felsen und Gestein. In diesen Jahren auf Husaby hatte das Leben sich ausgebreitet, hatte wie ein weiter und großer See dagelegen, in dem sich alles rings um sie widerspiegelte. Sie erinnerte sich, wie der Fluß daheim, wenn er im Frühjahr über die Ufer trat, breit und grau und mächtig im Talgrund lag, mit dem Treibholz, das er mit sich führte, und mit den Laubkronen, die, im Boden verwurzelt, nun auf dem Wasser schwankten. In der Mitte zeigten kleine, dunkle, drohende Wirbel, wo der Strom unter der glatten Fläche heftig und wild und gefährlich ging. Jetzt wußte sie, daß ihre Liebe zu Erlend in allen diesen Jahren hingeflossen war wie ein heftiger und gefährlicher Strom unter ihrem Leben. Jetzt riß er sie mit sich fort - sie wußte nicht, wohin.
Erlend, geliebter Freund ...
Noch einmal betete Kristin ein Ave in den roten Abend hinaus. Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade! Ich wage nicht, dich um mehr als um eines zu bitten, das sage ich jetzt: Rette Erlend, rette das Leben meines Mannes!
Sie blickte auf Husaby hinab und dachte an das Leben ihrer Söhne. Jetzt, da der Hof im Abendlicht dalag wie ein Traumbild, das ausgelöscht werden konnte, jetzt, da die Angst um das ungewisse Schicksal der Kinder ihr Herz durchbebte, fiel es ihr ein: Nie hatte sie Gott aus vollem Herzen für die reichen Früchte gedankt, die ihre Mühe in allen diesen Jahren getragen hatte. Nie hatte sie so richtig dafür gedankt, daß ihr siebenmal ein Sohn beschert worden war.
Aus der Kuppel des Abendhimmels, von den Gemeinden unter ihrem Blick drang murmelnd der Messeton herauf, den sie tausendmal gehört hatte, die Stimme des Vaters, die ihr die Worte erklärt hatte, als sie ein Kind war und an seinem Knie stand: So singt Sira Eirik im Präfatio, wenn er sich dem Altar zuwendet, und das heißt in unserer Sprache: Wahrlich, es ist würdig und recht, geziemlich und erlösend, daß wir immer und an allen Orten dir danken, Herr, unser Gott, allmächtiger Vater, ewiger Gott...
Als sie das Gesicht aus ihren Händen hob, sah sie Gaute den Hügel heraufkommen. Kristin saß still da und wartete, bis der Knabe vor ihr stand, dann streckte sie ihre Hand aus und ergriff die seine. Sie waren auf einer Wiese, und rings um den Stein, auf dem sie saß, konnte sich weit und breit kein Mensch verborgen halten.
„Wie hast du den Auftrag deines Vaters ausgeführt, mein Sohn?“ fragte sie
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