Kristin Lavranstochter 2
und Würde alt zu werden vermocht hatten ...
Da durchschnitt die Stimme des Kindes die Stille. Munan schrie in wildem Jammer heraus:
„Mutter - kommen sie jetzt und nehmen dich gefangen, Mutter? Kommen sie und nehmen dich uns weg?“
Er schlang seine Arme um sie und drückte seinen Kopf unter ihre Brust. Kristin zog ihn zu sich heran, sank auf die Bank nieder und nahm den weinenden kleinen Knaben in ihre Arme; sie versuchte ihn zu beruhigen.
„Kleiner, kleiner Junge, weine doch nicht so!“
„Niemand kann uns unsere Mutter nehmen.“ Gaute kam herzu und berührte den Bruder. „Weine nicht so - man kann ihr nichts tun. Jetzt mußt du aufhören - du weißt doch, daß wir unsere Mutter schützen werden!“
Kristin saß da und hielt das Kind an sich gedrückt - es war, als habe der Kleine sie mit seinen Tränen erlöst.
Da sagte Lavrans - mit fieberheißen Wangen saß er aufrecht im Bett:
„Ja - was wollt ihr tun, Brüder?“
„Wenn die Messe zu Ende ist“, erwiderte Naakkve, „wollen wir zum Pfarrhof gehen und für unseren Pflegevater Bürgschaft anbieten. Das ist das erste, was wir tun wollen - meint ihr nicht auch, ihr Burschen?“
Björgulv, Gaute, Ivar und Skule stimmten zu.
Kristin sagte:
„Ulv hat auf dem Friedhof einen Mann mit der Waffe angegriffen. Und ich muß irgend etwas tun, um ihn und mich von diesen Gerüchten zu befreien, die über uns ausgestreut worden sind. Dies hier sind so ernsthafte Nachrichten, meine Kinder, daß ich meine, ihr jungen Burschen solltet euch mit jemand beraten, was hier zu geschehen hat.“
„Wen meinst du, den wir um Rat fragen sollten?“ fragte Naakkve ein wenig spöttisch.
„Herr Sigurd auf Sundbu ist mein Vetter“, antwortete die Mutter zögernd.
„Da er sich dessen nicht früher erinnert hat“, sagte der junge Mann wie zuvor, „dünkt es mich nicht richtig, daß wir Erlendssöhne bittend zu ihm kommen, nun, da wir in Not sind. Was meint ihr, Brüder? Sind wir auch nicht mündig, so verstehen wir doch die Waffen zu führen, fünfe von uns.“
„Kinder“, sagte Kristin, „in dieser Sache werdet ihr mit Waffen nichts ausrichten.“
„Das müßt Ihr uns überlassen, Mutter“, entgegnete Naakkve kurz, „jetzt aber meine ich, Ihr solltet uns etwas zu essen geben, Mutter. Und setzt Euch auf Eueren gewohnten Platz, des Gesindes halber“, sagte er, als habe er ihr zu befehlen.
Nur mit Mühe konnte sie etwas essen. Sie saß da und überlegte - sie wagte nicht, zu fragen, ob ihre Söhne jetzt dem Vater Nachricht senden wollten. Und sie dachte - wie diese Sache wohl weitergehen würde. Sie wußte nicht viel vom Gesetz in solchen Angelegenheiten, es blieb ihr sicher nichts anderes übrig, als diese Gerüchte mit fünf oder elf Eideshelferinnen abzuschwören. Das mußte wahrscheinlich in der Hauptkirche auf Ullinsyn in Vaage stattfinden. Dort hatte sie fast auf jedem Großhof Verwandte von der mütterlichen Seite her. Und wenn ihr Eid nicht galt - und sie vor ihnen stehen mußte, ohne sich von dieser schändlichen Anklage reinigen zu können? Ihrem Vater diese Schande anzutun! Er war hier in diesen Tälern nicht einheimisch gewesen, er selbst hatte es zuwege gebracht, sich Ansehen zu verschaffen, ihn hatten alle geehrt. Die wenigen Male, die Lavrans Björgulvssohn auf dem Thing oder in der Volksversammlung eine rechtliche Sache führte, hatte er stets eine geschlossene Gefolgschaft gehabt. Aber sie wußte, daß ihre Schande auf ihn zurückfallen würde. Ganz plötzlich sah sie, wie einsam ihr Vater dagestanden hatte - trotz allem, einsam und fremd unter den Leuten hier, sooft sie ihm eine Bürde nach der anderen an Sorge und Scham und Verachtung aufgeladen hatte.
Sie hatte nicht geglaubt, daß sie immer noch so empfinden könnte; immer und immer wieder hatte sie gedacht, ihr Herz müsse in blutende Scherben zerbrechen - wiederum war es, als zerspringe es.
Gaute ging auf den Altan hinaus und sah nach Norden.
„Jetzt reiten die Leute von der Kirche heim“, sagte er. „Wollen wir warten, bis sie ein Stück weit gekommen sind?“
„Nein“, antwortete Naakkve. „Sie mögen gerne sehen, daß die Erlendssöhne unterwegs sind. Wir müssen uns jetzt bereit machen, Brüder. Am besten ist es, ihr setzt Stahlhauben auf.“ Nur Naakkve besaß eine vollständige Rüstung. Den Harnisch ließ er liegen, setzte jedoch den Helm auf, nahm Schild, Schwert und eine lange Lanze. Björgulv und Gaute nahmen die alten Eisenhüte, die die Knaben trugen, wenn sie sich
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