Krokodil im Nacken
das hätte sich damals auch kein gesunder Menschenverstand träumen lassen. Noch mal sind wir nicht so blind.«
Worte, die in Manne ein tiefes Unbehagen erzeugten. Waren denn nicht erst wenige Jahre zuvor die letzten Kriegsgefangenen heimgekehrt? Wie konnte man da in Ost und West schon wieder von neuen Armeen schwärmen?
Eine noch tiefer gehende Abneigung aber erfüllte ihn, wenn er beobachtete, was Seeler unter »Selbsterziehung« von Jugendlichen verstand. Immer wenn der Heimleiter glaubte, dass es gar nicht anders ging, gab er Martin Kossak einen Wink, und dann wurde der zu Erziehende eines Abends von Kossak und seinen Hilfssheriffs in den Waschraum geführt und die »Erziehungsmaßnahme« fand statt.
Es funktionierte jedes Mal wie ein Magnetismus; kaum wurde ein Delinquent abgeführt, fanden sich auch die notwendigen Mitschläger und jede Menge begeisterte Gaffer ein. Manche Schläger erschraken, wenn sie das erste Mal zuschlugen, wollten aber unbedingt mal ausprobieren, wie das war, an einem anderen so richtig die Wut auslassen zu dürfen. Der eine oder andere tat es danach nie wieder, den meisten aber fiel es beim zweiten oder dritten Mal schon sehr viel leichter. Viele Gaffer zitterten vor Angst, es könnte auch sie einmal treffen, aber erregt wie sie waren, konnten sie keinen Blick abwenden.
Der hellblonde, schon früh männlich wirkende Martin Kossak war eigentlich kein übler Kerl. Zwar immer stramm, aber gemütlich; einer, der schon mit siebzehn am liebsten Stumpen rauchte und gern den handfesten Sohn der Arbeiterklasse spielte.
Kossak schlug nicht aus Hass, er schlug wie ein Büttel, mit dem ruhigen Gewissen, Recht und Ordnung zu vertreten. Und so war es auch nicht Kossak, gegen den sich der Zorn der Jugendlichen richtete, die mit diesen Methoden nicht einverstanden waren. Die Verantwortung für diese Art von Lynchjustiz trug Seeler, der sich stets in seiner Wohnung über den Speisesaal aufhielt, wenn im Waschraum das Blut spritzte. Und sein Mittäter war Leon Gutfreund, neben Seeler einziger Erzieher im Heim.
Gutfreund hatte nur tagsüber Dienst, konnte also abends gar nicht greifbar sein, erzählt man ihm aber am nächsten Tag von dem Vorfall, machte der dickliche ehemalige Sportlehrer ein ungläubiges Gesicht. »Das kommt doch überall mal vor, dass sich welche kloppen. Was ihr da wieder alles reinlegt!«
Gutfreunds Erziehungsmethode basierte auf Freundlichkeit. Er wollte seinem Namen Ehre machen und tatsächlich ein guter Freund der Jugendlichen sein. Oft erzählte er aus seiner Jugend, an warmen Sommerabenden spielte er Akkordeon und sang ihnen alte Schlager vor: »Wo sind die Frauen so schön? Nicht weit vom Knie …«
Niemand, der mit Leon Gutfreund nicht auskam. Was die »Erziehungsmaßnahmen« betraf, hielt er sich jedoch zurück: Werner Seeler war der Chef, in seine Arbeit redete er ihm nicht rein. Und die drei, vier Jugendlichen, die sich ernsthaft gegen diese Art von Gruppenerziehung auflehnten, wagten nicht, sich dem Mob in den Weg zu stellen.
Was aber hatten die Delinquenten getan, um auf diese Art und Weise »erzogen« zu werden? Hänschen Knoll hatte in einen fremden Schrank gelangt, um sich ein paar Mark auszuleihen. Er hatte auch zuvor schon das eine oder andere Mal geklaut, der kleine, pummelige Kerl, den niemand ernst nahm, weil er auch mit fünfzehn noch hin und wieder einnässte. Auch hatte er die Köchin, Frau Silberschmitt, als sie ihn beim Boulettenklauen erwischte, mit Schimpfwörtern belegt, wie sie die weißhaarige Frau noch nie zuvor in ihrem Leben zu hören bekommen hatte. Erst Kameradendiebstahl, jetzt eine alte Frau zutiefst verletzt – gab es furchtbarere Verbrechen?
Der lange Pit Eisenmut war zwei Nächte fortgeblieben, kam zurück und sah keinen Grund, sich bei irgendwem für irgendwas zu entschuldigen.
Jo Jo hatte während eines Heimfestes die dicke Christa aus dem Mädchenwohnheim Oberspree, das die Jungen zu jeder Heimfete auf die Insel einluden, betrunken gemacht und in sein Zimmer abgeschleppt. Als Christa mitbekam, was der selbst nicht mehr nüchterne Jo Jo mit ihr vorhatte, schrie sie laut um Hilfe. Im Speisesaal, wo der Schwof stattfand, wurde man aufmerksam, alles stürzte in die Schlafräume und Jo Jo in seiner Panik hetzte über die Abteibrücke und immer weiter in Richtung Schlesisches Tor; wollte sich also ganz offensichtlich in den Westen absetzen. Kossak und seine Leute jagten ihm nach, holten ihn kurz vor der Grenze ein und schleppten ihn im
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