Krokodil im Nacken
Triumphzug auf die Insel zurück, wo die Fete längst beendet war. Sie zerrten Jo Jo, der zuvor immer einer von Kossaks eifrigsten Helfern gewesen war, die Treppe hoch und schlugen ihm mit den Fäusten auf die Finger, wenn er sich am Treppengeländer festklammern wollte. Im Waschraum heulte Jo Jo, aber niemand hatte Mitleid, vor allem jene nicht, die noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen hatten.
Ein Wunder, dass Manne nie im Waschraum landete. Manche Jungen hätten ihm, dem Bücherwurm und Nachhilfelehrer, gern gezeigt, dass auch sie etwas konnten. Und an Bestrafungsgründen hätte es nicht gefehlt. Es blieb rätselhaft, weshalb Seeler ihn nicht zur Erziehung freigab.
Und abseits von harter Arbeit, guten Worten und Waschraum? Die Welt außerhalb des Heimes?
Robert war mit Reni und Kati an der DDR-Botschaft in Nordkorea – man hatte dort einen Koch gesucht, er hatte sich beworben und war delegiert worden –, Tante Grit und Onkel Karl hatten sich selbstständig gemacht. In WestBerlin. Sie mussten viel arbeiten und hatten nie Zeit, wollten Manne aber dennoch einen Halt geben; jeden Donnerstagabend durfte er sie besuchen. Dann fuhr er mit der S-Bahn zur Schönhauser Allee und wartete vor dem Haus, bis Tante Grit kam. Sie war noch immer eine gut aussehende Frau, trug nur Westkleidung und verstand sich zu schminken. Saß er bei ihr im Wohnzimmer, stand eine 50er-Blechdose Astor Filter auf dem kleinen Tisch mit der Glasplatte – Onkel Karls Lieblingszigarette – und manchmal gab’s ein Gläschen Sekt: Henkell trocken . Auch von drüben.
Onkel Karl und Tante Grit machten es wie zigtausend andere auch, lebten im Osten, verdienten im Westen. Damit niemand ihre Grenzgängerei mitbekam, fuhren sie morgens mit der S-Bahn zwei Stationen bis zum Bahnhof Wedding, stiegen dort in ihren Firmen-PKW und fuhren weiter in ihr Kreuzberger Farbengeschäft, dem auch eine kleine Fabrik angeschlossen war. Bei einem Umtauschkurs von 1:4 waren die ohnehin niedrigen Lebenshaltungskosten im Osten für sie nur ein Klacks; kein Problem, die aufgenommenen Westkredite abzuzahlen.
In den Ostzeitungen wurden die Grenzgänger als Parasiten beschimpft; Onkel Karl verteidigte sich gegen diese »Verleumdungen«: »Haben wir die Verhältnisse gemacht? Sind wir schuld am Krieg, der uns unsere Jugend genommen hat? Auf andere Art und Weise wäre unsereins doch nie zu einem Geschäft gekommen. Die sollen sich nur nicht aufregen, hab mir alles selbst erarbeitet.« Er nannte die DDR ein nicht lebensfähiges, künstliches Gebilde, und sprach er über die Zukunft, benutzte er oft sein Lieblingswort »Wenn’s mal anders kommt …«.
Onkel Karl war überzeugt davon, dass es irgendwann anders kommen und keine DDR mehr geben würde. Deshalb, so seine stete Warnung, solle man sich nie allzu sehr mit »dem Regime« einlassen, sondern immer schön die alte Soldatenregel beherzigen: »Viel sehen und möglichst wenig gesehen werden«.
Onkel Karl, das wusste Manne von der Mutter, war immer gegen die Nazis gewesen, jetzt war er nicht nur gegen die Kommunisten, sondern gegen alles, was irgendwie links war. Er mochte nicht einmal den sozialdemokratischen WestBerliner Bürgermeister Brandt, der doch im Osten als Frontstadtchef und ganz reaktionärer kalter Krieger bezeichnet wurde. Onkel Karl wäre gern für Adenauer gewesen, konnte nur leider nicht über seinen Schatten springen, da Adenauer doch so gegen alles Ostdeutsche und besonders gegen Berlin war und nicht mal das Wörtchen »Pankow« richtig aussprechen konnte, sondern immer nur »Pankoff« sagte, als lebte man hier schon mitten im tiefsten Russland.
Alles in allem, so empfand Manne von Besuch zu Besuch stärker, war Onkel Karl nur für sich selbst und seine Interessen. Das gefiel ihm nicht, und vielleicht wünschte er deshalb nicht, dass es jemals in Onkel Karls Sinne »anders kam«. Er sah das ganze Ost-West-Problem mehr unter sportlichem Aspekt: Der Zufall hatte ihn, Manfred Lenz, in die OstBerliner Mannschaft geweht – wie konnte er dafür sein, dass die WestBerliner Truppe gewann? Da aber der Gesundbrunnen, der Kudamm und der Wannsee auch zu seiner Welt gehörten, durfte auch der eigene Verein in diesem Bruderkampf nicht siegen. Also drückte er beiden Mannschaften die Daumen und hätte es am liebsten gesehen, wenn nur eine einzige Berliner Mannschaft auf den Platz gelaufen wäre. Wenn es dazu aber erst »anders kommen« musste, dann bitte nicht nach Onkel Karls Regeln, die auf einen 10:0-Sieg des
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