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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Mädchen waren sehr geschminkt und rochen meilenweit nach Parfüms und Cremes und der Abend – oder besser die Nacht – wurde sauteuer. Musste ja alles 4:1 bezahlt werden. Trotzdem kehrten sie am Morgen darauf in bester Stimmung ins Heim zurück und versuchten Muttchen glauben zu machen, sie hätten alle vier bis zum frühen Morgen Obst- und Gemüsewaggons entladen. Aber Muttchen wollte sich nicht für dumm verkaufen lassen, sie trug sie ins Buch der Verspätungen ein und Seeler bestrafte alle vier mit vier Wochen Ausgangssperre. Tage, in denen sie an den Abenden im Heim bleiben mussten und sich in gemeinsame Phantasieträume flüchteten. Irgendwann, das stand fest, würden sie an der Insel vorgefahren kommen, im roten Kabriolett, weißen Anzug an und rote Weste, jeder eine tolle Braut im Arm. Und dann würden sie den miesepetrigen Seeler und seine Funktionärsparolen auslachen. Vielleicht würden sie aber auch, waren sie erst mal hier raus, Matrosen werden, auf einem Frachtschiff anheuern: Bombay, Singapur, Rio, Havanna …
    Manchmal phantasierte aber auch nur einer: Manne Lenz. Dann lauschte das halbe Heim den Wildwestgeschichten, die er erzählte; Romane, die er vor ihren Augen erfand, Storys, in denen es von harten Burschen und tollen Ladys nur so wimmelte. Wer wollte, durfte darin mitspielen, und natürlich wollte jeder einmal der ganz harte, schnell ziehende Westernheld gewesen sein. Ihr Gelächter und Gejohle erfüllte die ganze Insel; Ausflügler, die am Heim vorüberspazierten, mussten denken: Was für eine glückliche Jugend!
    Ein wirkliches Abenteuer erlebten Eddie Gerhardt und Manne Lenz in Mannes letzter Silvesternacht als Insulaner. In dieser Nacht war er im Heim geblieben. Wo hätte er denn sonst hin sollen? Robert und Reni waren in Korea und Tante Grit und Onkel Karl bei irgendwelchen Freunden zu Besuch. Im Heim aber sah es düster aus. Keine Feier, keine Stimmung! Nicht mal Ete war da; der feierte offiziell mal wieder bei seiner Ostschwester, inoffiziell aber bei der im Westen. Von den Jungen, mit denen etwas anzufangen war, hingen nur Hanne Gottlieb, der nicht mit Mutters Genossen Silvester feiern wollte, und natürlich Eddie im Heim herum. Sie hatten ihr Geld zusammengelegt, sich was zu trinken geholt und Eddies Kofferradio angeschmissen, und nun tanzten sie miteinander: mal Hanne mit Manne, mal Eddie mit Hanne, mal Manne mit Eddie.
    In Seelers Wohnung über dem Speisesaal, die außer Martin Kossak kein anderer Insulaner je betreten hatte, brannte Licht. Er feierte mit seiner Frau, einer üppigen, sommersprossigen Blondine, die im Bezirksamt arbeitete und sich nur selten ins Heimleben einmischte. In den anderen Zimmern wurde Skat oder Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt.
    Die drei Tänzer gaben sich lustig, waren es aber nicht. Eine Stunde vor Mitternacht erreichte der Frust dann seinen Höhepunkt: Wie lange wollten sie hier denn noch die Schwulen spielen? Panikartig brachen sie auf, um mit der Straßenbahn nach Oberspree rauszufahren, hin zu dem ebenfalls direkt an der Spree gelegenen Mädchenwohnheim, mit dem sie so viel verband. Aus Spaß nannten sie das Mädchenheim hin und wieder Tripperburg; es wohnten dort aber keine geschlechtskranken Püppi Heinemanns, sondern mehrere gleich alte Mädchen, die ähnliche Schicksale hinter sich hatten wie die Jungen von der Insel.
    Veranstaltete die Insel ein Heimfest, luden die Jungen die Mädchen dazu ein, veranstalteten die Mädchen ein Heimfest, luden sie die Jungen ein. Viele Insulaner waren schon mal mit einem der Mädchen aus Oberspree gegangen, Manne hatte es in gut zwei Jahren auf drei Freundschaften gebracht. Alles harmlose Knutschvergnügen, nur einmal war es mehr, da war er in Corinna verliebt, das leicht südländisch wirkende Mädchen mit dem langen braunen Haar, das zuvor mit Eddie gegangen war, aber früh heiraten wollte und sich für einen bereits selbstständigen Gärtnergesellen entschieden hatte, der keine Heimkarriere verarbeiten musste.
    Was die drei Frustrierten in jener Silvesternacht vorhatten? Ein bisschen tanzen, ein bisschen lustig sein. Die Mädchen würden doch sicher feiern, vielleicht fehlten ihnen ein paar Tänzer. In dem villenähnlichen Gebäude direkt an der Spree aber war alles still. Keine große Feier, nur das Licht der Nachtwache, die sich im Speisesaal niedergelassen hatte, funzelte trübe vor sich hin. Zornig darüber, dass ihnen nichts Besseres eingefallen war, als in diese Einöde hinauszufahren, stritten sie

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