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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Westens hinausliefen.
    Ansonsten hatte Manne, wenn er in seiner Freizeit das Heim verließ, vor allem zwei Ziele: erstens, sich irgendwo ein paar Mark zu verdienen, zweitens, ins nahe Kreuzberg hinüberzuwandern, um diese paar Mark für Klamotten und Kinobesuche auszugeben. Zwar stand ihm jedes Jahr ein bestimmter Betrag Kleidergeld zur Verfügung, aber wollte er nicht wie Emmes von der Parkbank herumlaufen, musste er selber sehen, wie er was Anständiges auf den Hintern bekam. Deshalb gab es keine großen Ferien, in denen er nicht mehrere Wochen lang den Transportarbeiter oder Hilfslageristen spielte, und dazu noch die unzähligen Sonntage oder Sonnabendnächte, in denen er entweder am Fließband der Schöneweider Brauerei beidhändig Bügelverschlussflaschen zudrückte, bis seine Daumen auf Rübengröße angeschwollen waren, oder in denen er in der Bahnanlage der Großmarkthalle am Alexanderplatz Obst- und Gemüsewaggons entlud. Seeler erlaubte solche Einsätze. Arbeit schafft den Menschen! Was er nicht erlaubte, war, sich beim Klassenfeind anzustellen. Aber auch dort wurden öfter Aushilfskräfte benötigt – und einen Waggon Kohlen entladen brachte vierzig Westmark. Zu zweit schaffte man den in einer Nacht. Das waren zwanzig Westfleppen für jeden, umgerubelt achtzig Ostmark. Manne Lenz und Ete Kern aber rubelten nicht um; für zwanzig Westmark bekamen sie eine neue Jeans, zwei Hemden oder ein paar Schuhe.
    Im Heim erzählten sie in solchen Fällen, sie hätten mal wieder in der Großmarkthalle geschuftet. Und das, obwohl ihnen noch die Briketts in den Augenwinkeln hingen, wenn sie am Morgen todmüde ins Heim gewankt kamen. Muttchen, die siebzigjährige, sehr kleine, aber wieselflinke Nachtwache mit dem faltenreichen Gesicht, die noch arbeitete, um sich und ihre vierundneunzigjährige Mutter durchzubringen, war viel zu pfiffig, um ihnen das zu glauben. Doch sie verriet sie nicht, schüttelte jedes Mal nur streng den Kopf, wenn sie ihr in die Arme liefen. Sie war wirklich ein »Muttchen«, schmierte den Jungen Zugsalbe auf den Hintern, wenn einer ein Furunkel hatte, kochte Grippekranken Kräutertees und meldete Zuspätkommende nur, wenn sie es zu arg übertrieben. Dass Muttchen noch bei ihrer Mutter lebte, war für die elternlosen Jungen eine Sensation; dafür, dass sie sie nicht erziehen wollte, aber immer für sie da war, liebten sie die alte Frau.
    Weil Manne nur wenig für die Schule tat, dafür aber viel arbeitete, konnte er sich immer seine Jeans leisten, dazu bunte Söckchen und weiße Mokassins und die geliebte Porsche -Jacke aus blauem Kord. Alles aus den Läden des Klassenfeinds. Auch andere handelten auf solche Weise »politisch unklug«, Seeler jedoch konnte gegen diese »westliche Dekadenz« und »bewusste Irreführung unserer Jugend« nichts machen. Rigorose Maßnahmen hätten seine Jungen dem Gegner ja nur noch tiefer in die Arme getrieben. Er konnte nur immer wieder über die »Eiterbeule« WestBerlin klagen, die da so tief mitten im Fleisch der kräftigen, jungen, gerade erst aufblühenden DDR steckte, ihnen mangelndes politisches Bewusstsein vorwerfen und sie mit beleidigtem Gesicht fragen, ob sie sich nicht schämten, als wandelnde Werbesäulen für die kapitalistische Wirtschaft herumzulaufen.
    Um seine Reden abzukürzen, gaben sie sich einsichtig; den Klassenfeind mieden sie aber trotzdem nicht.
    Der Westen war bunt, der Westen machte Spaß. Wie Manne und Ete sich einmal in ihre besten Anzüge schmissen, sich zum weißen Hemd eine propellergroße, bunt karierte Fliege umbanden und mit der S-Bahn, in der sie auffielen wie zwei Pinguine in der Wüste, in die Deutschlandhalle zur Schlagerparade rüberfuhren! Werner Müller und das RIAS-Tanzorchester, Bill Ramsey, Chris Howland, die Blue Diamonds und wie sie alle hießen, die aus Film, Funk und Fernsehen beliebten Schlagerstars des Westens. »Souvenirs, Souvenirs, aus Paris und Cannes«, trällerten sie auf dem Heimweg und »Kleines Fraulein aus Berlin, hab nur dich, nur dich im Sinn«. Viel fehlte nicht und sie wären auf die Insel zurückgesteppt wie Gene Kelly in Ein Amerikaner in Paris durch den Regen.
    Ein andermal dampften sie zu viert zum Kudamm ab: Ete Kern, Hanne Gottlieb, Eddie Gerhardt und Manne Lenz. In der Joachimsthaler Straße gab’s einen Westernsaloon namens Smoky , an den Wänden Filmplakate von Zwölf Uhr mittags bis Weites Land , auf den Barhockern echte Ledersättel mit Steigbügeln. Getanzt wurde nach der Musikbox. Die

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