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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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lustige, die Heimbewohner auf die Schippe nehmende Gedichte und hängte sie zusammen mit Hanne Gottliebs satirischen Zeichnungen im Speisesaal auf. Er gab den ehemaligen Sonderschülern, die nicht ewig Hilfsarbeiter bleiben wollten, Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen und war über anderthalb Jahre hinweg Heimratsvorsitzender. Tagsüber färbte er seine Hemden rot oder schwarz, weil ihm andere Farben nicht mehr auf die Haut kommen sollten, in den Nächten verleibte er sich die gesamte Weltliteratur ein. Er hatte Kumpels und er hatte Ete Kern.
    Keine schlechte Zeit – wenn da nicht dieser Werner Seeler, sein Parteiauftrag und sein Verständnis von sozialistischer Erziehung gewesen wäre! Jeden Monat ein Heimabend, manchmal auch zwei. In der warmen Jahreszeit fanden sie in dem hufeisenförmigen, mit Blumen und Rasen umgebenen, kiesbestreuten Hof statt, in der kalten im Speisesaal. Über die katastrophalen Lebensverhältnisse im Westen wurden sie informiert und über die infamen Kriegspläne der amerikanischen Monopolkapitalisten. Aber keine Bange, so der ehemalige Polizeimajor Seeler, die westdeutsche Arbeiterschaft werde sich das nicht lange gefallen lassen. Auch im Westen wachse eine revolutionäre Basis heran. Noch würden zwar die vollen Schaufenster im Westen so manchen täuschen, bis spätestens Ende 1961 aber werde die DDR-Wirtschaft die Bundesrepublik überholt haben. Was nichts anderes als die Überlegenheit des Sozialismus bedeute, denn der Wettbewerb zwischen den Systemen werde auf dem Gebiet der Wirtschaft entschieden.
    Genauso gern sprach Seeler über Nikita Chruschtschow, den Partei- und Staatschef der Sowjetunion, der vor der UN-Vollversammlung mit seinem Schuh aufs Rednerpult gehämmert hatte. Chruschtschow, der »schlaue Bauer«, gefiel ihm; er war überzeugt davon, dass »Nikita« allen westlichen Politikern an Raffinesse überlegen war. Was Seeler allerdings nicht zur Kenntnis nahm, war, dass Chruschtschow auch mit Stalin abgerechnet und ihm schwere Verbrechen, politische und militärische Fehler und einen von ihm selbst inszenierten, maßlos übersteigerten Personenkult nachgewiesen hatte. Eine Abrechnung, die im Westen in aller Munde war, von der im Osten aber niemand etwas wissen wollte, hatten doch nur wenige Jahre zuvor noch alle Volkskammerabgeordneten bei der bloßen Erwähnung von Stalins Namen aufstehen und klatschen müssen. Die Jungen von der Insel, im nahen Westen nicht weniger zu Hause als im Osten, hatten jedoch davon gehört, und einmal fragte Hanne Gottlieb, ob das denn wirklich alles nur Westlügen seien, was da über Stalin verbreitet wurde. Eine Frage, die Seeler sogleich auf hundert brachte: »Du redest nur nach, was der Westen dir vorgekaut hat. Zuerst muss doch mal festgestellt werden, dass der Genosse Stalin sich bedeutende Verdienste beim Aufbau des Sozialismus erworben hat. Der Personenkult um ihn, der war natürlich falsch, der hätte nicht sein müssen. Und natürlich hat er hin und wieder Fehler gemacht, hat im Krieg den Feind unterschätzt. Aber wer macht denn keine Fehler? Auch das größte Genie ist nicht fehlerlos. Ansonsten jedoch: Alles Lügen! Ohne Stalin gäb’s heute keine Sowjetunion mehr, und was das für den Weltfrieden bedeuten würde, kann sich jeder an einer Hand ausrechnen.«
    Ein weiteres Lieblingsthema von Seeler war die Nationale Volksarmee. Sprach er über »unsre Jungs in Waffen«, steigerte er sich ins Schwärmen hinein. Keine Frage, dass man der Bundeswehr der westdeutschen Imperialisten in allen Belangen überlegen war. »Warum, wollt ihr wissen? Einfach, weil unsere Soldaten für ihre eigenen Interessen kämpfen und nicht für die des Kapitals.«
    Zog er am 1. Mai mit ihnen zum Marx-Engels-Platz, um sich die Parade der Armee anzuschauen, erklärte er ihnen die verschiedenen, vorgeführten Waffen, als hätte er selbst an ihrer Entwicklung mitgearbeitet, und begrüßte jedes Mal mit ganz besonders lautem Beifall die neuen Langrohre, »weil der Westen so etwas ganz gewiss noch nicht hat«. Auf dem Rückweg resümierte er dann gemütlich, das sei mal wieder eine sehr schöne, beeindruckende Warnung für all jene Unbelehrbaren gewesen, die den Weltfrieden stören wollten.
    Als Manne mal sagte, der Westen könne doch gar keinen Krieg wollen, weil bei einem Atomkrieg ja alle draufgehen würden, rechnete Seeler ihm vor, wie viele alte Nazis in der Bundesrepublik wieder in Amt und Würden seien. »Die haben schon mal bewiesen, wozu sie fähig sind;

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