Krokodil im Nacken
heranschweben sehen, weil er sich gerade die Schnürsenkel neu band. Bleich, aber lachend drohte er mit der Faust zum Himmel hoch: »Alter Arsch! Kannste nicht aufpassen?«
Die Kollegen, die dabeistanden, lachten mit. Sie glaubten, er hätte Jimmy Busch gemeint, der an diesem Tag in der Führerkabine der Krananlage saß. Er jedoch hatte eine weitaus höher gestellte Persönlichkeit im Visier: Der Große Regisseur da oben, der war wohl nicht ganz dicht! Sollte es nach dem Vater, dem Bruder, der Mutter nun etwa auch ihn erwischen? Mit noch nicht mal neunzehn? Und das gerade jetzt, da er Hannah kennen gelernt hatte und so verliebt war wie noch nie zuvor in seinem Leben?
Zurück in seiner Wohnung im dritten Hinterhof sah er die Sache anders: Vielleicht hatte das Ganze ja nur ein Schreckschuss sein sollen? Eine Warnung von ganz oben: Verplemper nicht deine Zeit, Manne Lenz, träum nicht immer nur, mach was aus dir, gib deinem Leben einen Sinn. Du kannst doch mehr als Blei-, Kupfer-, Aluminiumbarren und Grussäcke entladen.
Das war es ja auch, was Flamme Feuerbach von ihm verlangt hatte, der lustige Student, der in den Semesterferien bei ihnen mitgearbeitet hatte und eigentlich Helmut hieß, aber wegen seiner feuerroten Haare von allen nur »Flamme« gerufen wurde. Flamme hatte sich in den vier Wochen, in denen er bei ihnen war, nur an ihn gehalten und ihn beim Abschied ernsthaft ermahnt, etwas aus sich zu machen. Es wäre schade, wenn einer, der so viele literarische Interessen habe, nicht versuchte, sich auf irgendeine Weise intensiver damit zu beschäftigen.
Nun dieser Kupferbarren! Wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war!
In der Woche nach diesem glimpflich überstandenen Abenteuer erlebte die Brigade einen sehr stillen Manfred Lenz. Oft saß er auf der Gleitschiene der Krananlage und blickte auf die andere Seite des Flusses hinüber. Dort lag eine große, alte Villa: die Schauspielschule.
Ob er Talent hatte? Weshalb meldete er sich denn nicht einfach mal zur Aufnahmeprüfung an? Weil er zu feige war? Weil er sich wie immer zu wenig zutraute? Der Be- und Entlader Manne Lenz sollte sich auf die Bretter wagen, die die Welt bedeuten – das konnte er sich nicht vorstellen, dazu hatte er zu viel Respekt vor diesem Beruf. Gedichte schreiben, sich an einer Kurzgeschichte versuchen war etwas anderes. In aller Heimlichkeit wagte er es, respektlos zu sein; vor sich selbst durfte er sich ruhig blamieren.
Kein Trost, sich immer wieder einzureden, dass er ja erst neunzehn war; kein Ausweg, sich damit zu beruhigen, dass er ja vielleicht gar kein Talent hatte. Hannah und er, sie wollten ja nun bald heiraten; er musste endlich loslegen, musste in Erfahrung bringen, wer er wirklich war. – Dieser Kupferbarren, verdammt noch mal, musste doch irgendeinen Sinn gehabt haben!
Wie Lenz Hannah kennen gelernt hatte! An einem ganz und gar verrückten Märzsonnabend – er war erst seit wenigen Wochen im KWO – war es passiert. Schlecht gelaunt war er am Morgen von der Nachtschicht heimgekommen, hatte nur zwei Stunden schlafen dürfen und war danach todmüde durch den schönen, sonnigen Vormittag zur Pappelallee gewackelt – zur Wehrerfassungsstelle! Es war ja nun, dank der Mauer, auch im Osten die Wehrpflicht eingeführt worden. Weil die militärisch immer stärker aufrüstende Bundesrepublik dazu zwinge, wie es offiziell hieß; weil nun keiner mehr flüchten konnte, wie es die Betroffenen sahen.
Sein Problem: Er hatte mal wieder kein Geld! Beim Militärverlag hatte er nicht viel verdient, der erste neue Lohn stand noch aus, und dann hatte er sich ja im Januar diesen modischen neuen Wintermantel gekauft, der ein ziemliches Loch in seine Kasse gerissen hatte. In dem Schreiben, mit dem er zur Wehrerfassung bestellt worden war, aber hatte gestanden, dass vier Lichtbilder mitzubringen waren. Wovon hätte er die bezahlen sollen, er, der seit Tagen nur von Brühwürfeln und Schrippen, Brot mit Senf und Zigaretten lebte? Außerdem wollte er sie ja auch gar nicht bezahlen; er hatte keine Lust, Soldat zu spielen. Großvater in Frankreich gefallen, Vater in Russland und er, wenn er Pech hatte, vielleicht irgendwo bei Nürnberg oder Leipzig?
Er hatte schon im Kinderheim nicht gern strammgestanden, wollte nicht ganze anderthalb Jahre in Reih und Glied marschieren. Und so steckten in der Tasche seines neuen Wintermantels keine aktuellen, sondern vier verschiedene, überall zusammengekramte Lichtbilder. Auf einem grinste ein blasser
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