Krokodil im Nacken
Vierzehnjähriger den Betrachter an – sein erstes Passbild überhaupt, aufgenommen für seinen ersten Personalausweis; auf einem anderen war ein Fünfzehnjähriger mit Elvis-Presley-Haarschnitt zu sehen – die Pomade glänzte wie lackiert; auf wieder einem anderen trug er einen Igelhaarschnitt – da war er sechzehn; auf dem letzten, das annähernd seinem jetzigen Aussehen entsprach, brillierte er mit einem frischen Messerformschnitt.
Der Hauptmann, der ihn zu erfassen hatte, ein junges, glatt gescheiteltes Speckgesicht, wusste nicht, ob er lachen oder toben sollte. Er entschied sich für die unwirsche Frage, ob Lenz ihn etwa verarschen wolle.
Lenz erklärte ihm seine Notlage und der Mann musste ihm wohl oder übel glauben. »Dann geh’n Se jetzt mal sofort in die Winsstraße«, befahl er. »Da is ’n Fotograf, der macht die Aufnahme und stundet Ihnen die zehn Mark. Die Formulare füll’n Se gleich aus, die Fotos bringen Se uns Montag.«
Er füllte die Formulare aus und lief die Dimitroffstraße hinunter, hin zur Winsstraße, während sich an den Straßenrändern bereits Menschentrauben bildeten: Nikita Chruschtschow, der sowjetische Staats- und Parteichef, Seelers Liebling, war mal wieder auf Berlin-Visite. Die hier Versammelten waren zum Fähnchenschwenken abkommandierte Betriebsbelegschaften und Schulklassen, die der unverhoffte Ausflug in blendende Laune versetzt hatte. An einem so schönen, sonnenüberfluteten Vorfrühlingstag war Fähnchenschwenken doch viel angenehmer, als an irgendeiner Maschine zu stehen oder Russischvokabeln zu pauken.
Der Fotograf, ein spillriges Männchen, wunderte sich nicht über den seltsamen Auftrag, ließ den mürrischen jungen Mann eine Quittung unterschreiben, machte die Fotos und versprach, dass sie am Montag fertig sein würden. Lenz durfte den Rückweg antreten. Jetzt aber war die Straße völlig abgesperrt, der Wagenkonvoi musste bald eintreffen. Lenz wartete und sah nach einer Unmenge schwarzer Limousinen endlich auch Chruschtschow und Ulbricht vorüberfahren. Im offenen Wagen standen sie, die beiden Staatsmänner, hielten sich mit hoch erhobenen Armen an den Händen und winkten: der kleine, dicke, bauerngesichtige Russe, der wie immer seinen berühmten, viel zu kleinen weißen Hut auf der Glatze trug, mit einem Blumenstrauß, Spitzbart Ulbricht mit der hohlen Hand, als wollte er sich Luft zufächeln.
Die Spalierstehenden klatschten und winkten zurück, ein Transparent mit der Aufschrift Die Deutsch-Sowjetische Freundschaft, sie lebe hoch! wurde geschwenkt, eine Schulklasse skandierte ihr eingeübtes »Drush-ba! Drush-ba! Drush-ba!«
Zwei, drei Minuten später war der Spuk vorüber, die Absperrung wurde aufgehoben und Lenz durfte weitergehen. Noch immer müde zottelte er die Dimitroffstraße hoch und stieß an der Ecke Prenzlauer Allee auf Gerdchen Pisternik. Bis zur Fünften waren sie zusammen in eine Klasse gegangen, hatten sich geprügelt und wieder vertragen und sich nun schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Neugierig fragten sie einander über Vergangenheit und Zukunft aus und zum Schluss versuchte Lenz, Gerdchen anzupumpen. Nicht für die Lichtbilder, die Kosten dafür wurden ihm ja gestundet; er wollte am Abend zur Insel rausfahren und sich mit Eddie treffen, mit dem er sich ein paar Wochen zuvor wieder vertragen hatte. Im Plänterwald wurde Fasching gefeiert; er hatte keine Lust auf ein trostloses Wochenende allein in seiner Wohnung. Wenn am Sonnabend nichts passierte, war die ganze Woche versaut.
Aber auch Pisternik war blank. Jedenfalls sagte er das. So verabredeten sie sich nur für irgendwann einmal und wussten beide, dass sie die Verabredung nicht einhalten würden, dann schlenderte der müde Lenz weiter, den Kopf gesenkt, ein Pechvogel sondergleichen. Und da musste er wohl von ganz oben aus gesehen einen besonders bedauernswerten Eindruck gemacht haben, denn der Große Regisseur lenkte endlich mal ein: Kaum in die Dunckerstraße eingebogen, fiel Lenz’ Blick auf etwas Braunes, schon sehr abgestoßen Ledernes, das da mitten in der Sonne auf dem Bürgersteig lag. Erschrocken blieb er stehen: Was da vor ihm lag, war ein Portemonnaie, nichts anderes! Er bückte sich, hob es auf, öffnete es. Ein Zehnmarkschein lächelte ihm entgegen; ein brandneuer Zehnmarkschein! Und etwas Kleingeld. Keine Adresse!
Er blickte sich um. Niemand, der suchend die Straße entlangkam, niemand, der ihn beobachtet hatte und »He, Sie! Was haben Sie denn da eben
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