Krokodil im Nacken
H.H.M. später nicht gern sprach, weil er ja eigentlich überzeugt davon war, nie in seinem Leben einen entscheidenden Fehler gemacht zu haben.
An der Front fiel der Soldat Möller bald durch »defätistische Äußerungen« auf – er hatte aber nur übers Essen gemeckert – und wurde einer Strafkompanie zugeteilt. Ein Himmelfahrtskommando, das die meisten seiner Kameraden nicht überlebten. H.H.M. hingegen hatte Glück, ein Hüftschuss brachte ihn ins Lazarett; als er daraus entlassen wurde, war der Krieg so gut wie vorüber. Zwar geriet er noch in Gefangenschaft, wurde aber schon wenige Stunden später durch einen letzten verzweifelten Gegenangriff der Wehrmacht daraus befreit und konnte sich in die Heimat absetzen.
Anfangs glaubte Lenz, dass Hannahs Vater, wie so viele andere auch, einfach nur auf das falsche Pferd Hitler gesetzt und das am Ende auch erkannt hatte. Eines Abends aber, in einer der feucht-fröhlichen Runden, die öfter im Hause Möller stattfanden, vertraute sein zukünftiger Schwiegervater ihm an, dass Hitler »bei Lichte besehen« nur einen einzigen wirklichen Fehler gemacht habe: die Sache mit den Juden. »Hätte er das gelassen, würde er heute noch gefeiert.« Erst ein Blick in Lenz’ erstauntes Gesicht ließ ihn diese Bemerkung relativieren: »Na ja, und den Krieg, den hätte er natürlich auch nicht anfangen dürfen.«
Die Judenmorde – nur ein »Fehler«? Der Krieg, in dem so viele Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten und den ja auch H.H.M. nur mit sehr viel Glück überlebt hatte – nur ein etwas ungeschickter Schachzug? Da hatte er zu schlucken, der Schwiegersohn in spe. Laut zu widersprechen aber wagte er nicht. Der Mann, der sich ihm da so offenherzig anvertraute, war ja Hannahs Vater und konnte auf fast sechzig Jahre Lebenserfahrung zurückblicken; er selbst war noch nicht mal neunzehn.
Mit der Zeit erfuhr er dann noch mehr: Ein Sohn aus Möllers erster Ehe, geistig behindert, war dem Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer gefallen, sein jüngster Bruder, ein Kampfpilot, der angab, sich verflogen zu haben, wegen des Verdachts auf Fahnenflucht erschossen worden. Verbrechen, die H.H.M. nicht unter »Fehler« verbucht hatte, sondern unter »übliche Schweinereien«.
Noch bedrückender aber war, was H.H.M. eines Abends – es war mal wieder viel getrunken worden – aus irgendeiner trüben Stimmung heraus von seiner Bauführertätigkeit erzählte. In seinem Gebiet wurden ab Kriegsbeginn vor allem polnische Juden beim Autobahnbau eingesetzt. Waren sie zu erschöpft, um weiterarbeiten zu können, musste er sie melden – und eines Tages erfuhr er, wo die Betreffenden hinkamen: Einer seiner Kollegen, vom Urlaub heimkehrend, hatte aus seinem Wagenfenster heraus beobachtet, wie weit abseits der Baustelle, in einer Waldlichtung, alte, schwache und kranke Juden von der SS in einen Kastenwagen mit der Aufschrift Kaiser’s Kaffee geschickt wurden. Er wunderte sich darüber und nutzte ein Besäufnis mit SS-Leuten aus, einen von ihnen nach dieser seltsamen Kaffeelieferung mitten im Wald zu fragen. Der SS-Mann, eine niedere Charge und schon ziemlich betrunken, brach sofort in Tränen aus und erklärte stammelnd und flüsternd, dass in diese Kastenwagen, von denen es mehrere gab, alle die geschickt wurden, die von den Bauführern als nicht mehr arbeitsfähig ausgemustert worden waren. »Da gibt’s ’nen Schlauchanschluss, durch den werden die Autoabgase in den Kasten geleitet … Kohlenmonoxyd – ’ne Viertelstunde und alles ist vorbei.«
Der SS-Mann gehörte zu denen, die die mit Kot und Urin besudelten Leichen aus dem Wagen schaffen mussten. Dabei, so seine Worte, seien für ihn jedes Mal die abgebrochenen Fingernägel der Leichen der schlimmste Anblick; Beweis dafür, dass sie bis zum Schluss an den Metallwänden des Mordautos gekratzt hätten …
H.H.M. hatte diese Geschichte erst nicht glauben wollen. »Der war doch besoffen, als er dir das erzählt hat«, fertigte er seinen zutiefst verwirrten und entsetzten Kollegen ab. »Lass dir doch nicht solchen Quatsch auftischen.« Das Erzählte aber ging ihm nicht aus dem Kopf, und bald war er überzeugt davon, dass es gar nicht anders sein konnte: Wo sollten all diese Menschen denn sonst hin verschwunden sein? In Krankenhäuser oder Pflegestationen? Er bekam Herzbeschwerden, oft zitterten ihm die Hände ohne jeden Grund. Trotzdem musste er weiter die Schwachen und Kranken melden. »Konnte ja nichts dagegen tun, sah ja jeder, dass
Weitere Kostenlose Bücher