Krokodil im Nacken
denn wer, was morgen war?
Und der Wohlstand der Familie Möller wuchs noch weiter an, denn schon bald wurden nicht mehr nur Gelder für Bauaufträge rübergeschoben, sondern auch überhöhte Rechnungen oder Rechnungen für nicht erbrachte Leistungen ausgestellt und von H.H.M. und seinen Kollegen gegengezeichnet. Immer umfangreichere Geldpäckchen wechselten ihre Besitzer; geteilt wurde nur noch nach Augenmaß. Sprach H.H.M. später von jenen Jahren, sagte er gern, damals habe er mehr Geld besessen als ein Warenhaus Hosenknöpfe.
Nicht lange und die Familie Möller zog in ein eigenes Haus.
Hannah, eher still als laut, aber immer wissbegierig, beobachtete diesen steilen Aufstieg nur staunend; das unheimliche Gefühl in ihr hielt an. Bruder Jo hingegen begann, seinen Vater zu vergöttern, und litt darunter, kein solcher H.H.M. zu sein. Nur die nun zwanzigjährige Fränze lehnte den Lebensstil ihres Vaters rundweg ab. Sie hatte ihr Abitur gemacht, studierte Romanistik und reiste viel nach Frankreich. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre war ihr suspekt. Da wurde geschuftet und wiederaufgebaut und Geld gemacht – nur um besser verdrängen zu können. Nein, so wollte sie nicht leben! Kam sie zu Besuch nach Hause, gab es jedes Mal Streit. Zwar konnte H.H.M. andere politische Standpunkte ertragen, nicht aber den Vorwurf, dass er selbst sich auf einem falschen Weg befand.
Auch Hannahs Mutter erschreckte das Tempo, in dem ihr Wohlstand wuchs, doch ließ sie sich nach all den kargen Jahren der Kriegs- und Nachkriegszeit gern von ihrem Mann verwöhnen. Ihre einzige Furcht war, dass, was so schnell aufblühte, schon bald wieder verwelken könnte. H.H.M. jedoch wiegelte ab. Mit ein paar Scheinchen im Briefumschlag, so seine feste Überzeugung, ließ sich alles regeln. Und so zögerte er am Ende nicht, auch noch als stiller Teilhaber in eine Baufirma einzutreten, was ihm als Angestellten der Stadt natürlich strikt verboten war, und eben dieser Firma die lukrativsten Aufträge zuzuschanzen.
Wie hatte es am Ende des Krieges geheißen – genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich? Ein Spruch, über den die korrupten Herren vom Baudezernat der Stadt Frankfurt am Main nur lachen konnten. Einen herrlicheren Frieden als den, den sie jetzt erlebten, hatte es nie gegeben. In all ihren Taschen steckte Geld, in den Bars und Tanzsälen der Stadt floss der Schampus in Strömen, und wie sollte, wer Geld hatte, denn nicht auch Frauen haben? Immer öfter machte Hans Henning Möller Überstunden, immer öfter gab es Auseinandersetzungen mit seiner Frau. Mit wem aber hätte Anneliese Möller über ihre Verletzungen reden sollen, wenn nicht mit Hannah? Nach dem Rückzug der ältesten Tochter und der Einberufung des Sohnes zur Bundeswehr war ihr ja sonst niemand geblieben. Es war die Dreizehn-, Vierzehnjährige, die sich anhören musste, was die Mutter empfand, wenn sie ihr zerstörtes Leben betrachtete; es war Hannah, die ihrer Mutter helfen musste, die sich häufenden Ehekrisen zu überwinden.
Und dann kam es eines Tages zu der von Mutter Möller befürchteten Katastrophe. Eine Tageszeitung berichtete über den Korruptionsfall. H.H.M. und seine Kollegen wurden bis auf weiteres ihres Amtes enthoben, ein Gerichtsverfahren wurde angestrengt. Und nun stellte sich heraus, dass die reiche Familie Möller in Wahrheit eine arme Familie war. Der große H.H.M., er hatte nichts zurückgelegt. Was er mit der einen Hand eingenommen hatte, hatte er mit der anderen wieder ausgegeben. Hannahs Mutter war gezwungen, in einer Kosmetikfabrik Arbeit anzunehmen. Und weil, was sie dort verdiente, zum Leben nicht reichte, musste untervermietet werden. Hannah zog in den Keller, die Eltern ins Wohnzimmer. Eine schlimme Zeit, aber es sollte noch böser kommen: Während die Eröffnung des Gerichtsverfahrens sich hinzog, erkrankte Hannahs Mutter schwer – und starb.
Für die fünfzehnjährige Hannah, die ihre Mutter über alles geliebt hatte, ein Schock, von dem sie sich lange nicht erholte. Ein Schock aber auch für den von Gewissensbissen geplagten H.H.M., der sich dem Ganzen nicht mehr gewachsen fühlte. Eines Abends kam er zu Hannah in den Keller und strich ihr über den Kopf – um danach eine Überdosis Schlaftabletten zu schlucken. Hilde Krummbiegel, seit dem Tod der Mutter Haushaltshilfe bei den Möllers, fand ihn gerade noch rechtzeitig. Als er im Krankenhaus wieder zu sich kam, saß Hannah an seinem Bett. Er sah sie, schluchzte laut auf und
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